Dunkel, aber mutig: das Werk der Tove Ditlevsen.

Foto: Ateljé Uggla

Alles beginnt an einem einfachen Abend: Da sind Stimmen, die zurückkehren. Gemeinsam mit einer Frau, die Tove Ditlevsen zunächst nur mit der Bezeichnung "sie" einführt, kommen sie wie jeden Abend mit dieser mit nach Hause. Und bald schon wird klar, warum die Autorin die Protagonistin Lise zunächst nur "sie" nennt, denn diese fühlt sich wie eine Variable, ein Wesen ohne Gesicht.

Zwar hat sie eine mehr oder weniger funktionierende Ehe mit Gert, ist erfolgreiche Autorin und schreibt haufenweise preisgekrönte Kinderbücher, doch bezeichnenderweise ist jetzt mit einem Mal genau sie es, die von der Angst ihrer Kindheit heimgesucht wird! Verlustängste, Tablettensucht, ja sogar die Einweisung in eine Psychiatrie – das alles bestimmt mit einem Mal Lises Leben.

Angstfantasien

Und damit nicht genug: Lise fühlt sich auch noch verfolgt. Ja, ihr Kopf wimmelt nur so von den Zwergenerscheinungen und anderen Angstfantasien ihrer Kindheit, und die Stimmen im Inneren werden immer lauter. Außerdem hat Lise das Gefühl, dass sie nach und nach ihr Gesicht verliert – es blättert von ihr ab wie eine alte Hülle. Ihr Mann Gert bemüht sich zwar rührend um Lise, doch auch ihm geht nach und nach die Kraft aus. Dabei könnte doch Lises Leben so schön sein: Sie hat ein herrliches Haus und verfügt über einen Vorrat an Wörtern, Haltungen und Denkweisen, wenn die Welt ihr zu entgleiten droht. Ja, sogar Gitte, ihre Sekretärin, eine liebevolle Hegende, die jedem das gibt, was er oder sie braucht, wurde ihr geschenkt! Wo also liegt das Problem?

Durchwegs autobiografisch

Die detaillierten Beschreibungen der Gefühle und Zustände am Anfang des Romans "Gesichter" machen neugierig. Gleich zu Beginn fragt sich der Leser, die Leserin: Was ist es, das diese Frau quält? Eine Antwort wird jedoch nicht so schnell gegeben. Der Text dokumentiert eher, als dass er auflöst – und das bis zuletzt.

Spannend ist in diesem Zusammenhang übrigens vor allem auch die Biografie der bereits verstorbene Autorin Tove Ditlevsen: 1917 im Kopenhagener Arbeitermilieu geboren, verließ diese mit vierzehn Jahren die Schule und mit siebzehn Jahren ihr Elternhaus; sie wurde Dienstmädchen und Bürogehilfin- und schließlich Autorin. Ihre Arbeiten sind durchwegs autobiografisch – und vielleicht ist das der Grund, warum auch das Buch "Gesichter" (nach ihrer 2021 ebenfalls im Aufbau-Verlag auf Deutsch erschienenen Trilogie "Kindheit, Jugend, Abhängigkeit") eine authentische und ergreifende Sogwirkung entfaltet.

Tove Ditlevsen gelingt es über viele Seiten hinweg, in denen der Alltag Lises genau beschrieben wird, die Spannung zu halten. Wie unter einem Mikroskop betrachtet sie die Gefühlszustände, die über Lise schwappen, seziert ihre Verlustängste und die Beschaffenheiten der inneren Stimmen, die in ihr kreisen. So einfach die Struktur des Textes ist, so detailliert und akribisch sind die Bilder, die in diesem Roman wiederkehren.

Tove Ditlevsen,"Gesichter". Übersetzt von Ursel Allenstein. € 20,00 / 160 Seiten. Aufbau-Verlag, 2022

Ein wichtiges Leitmotiv der Geschichte ist – der Titel verrät es bereits – zweifellos das der Gesichter: Menschen hegen, wie Lise weiß, ihre Gesichter, machen sie vor der Frisierkommode schön, verlieren sie und finden andere wieder. Lise aber erscheint mit einem Mal jedes ihrer bisher gelebten Ausdrücke wie aus Gips. Je mehr Zeit verstreicht, um so weniger passen die eigenen Gedanken, wie die Protagonistin findet, zu ihrem eigenen Gesicht, das sich "im Schlaf aufgelöst hatte wie eine Faschingsmaske".

Was also tun, wenn man sowohl Gesicht als auch Stimme verliert? Muss das das Ende sein? Nein, muss es nicht! Lise bleibt mutig: Sie beschließt, sich ihren Abgründen zu stellen. Schließlich sind da genug Menschen um sie, nicht nur Gert, sondern auch Gitte, die Ärztin, der Oberarzt – und viele andere, in denen der Wahnsinn ähnlich wuchert wie in ihr und die dennoch weitermachen und ihr sogar helfen können!

Sie schreibt ihr Leben

Nach und nach begreift Lise dank ihrer Unterstützung, was Sprache ist: eine Form, die den Dingen ihre Ordnung und ihr Gesicht wiedergibt. Und sie schreibt, schreibt sich nach und nach ihr Leben zurück, sich ins Leben zurück. Tove Detlevs Schilderungen sind zwar dunkel, doch auch mutig – und in gewisser Hinsicht sogar erlösend, weil die Autorin keine Angst davor hat, den Wahnsinn zu benennen. Es lohnt sich also auf jeden Fall, diese Reise ins Land jenseits der Spiegel mit dieser besonderen und mutigen Autorin und auch Protagonistin anzutreten. (Sophie Reyer, ALBUM, 13.2.2022)