Das vorliegende Büchlein ist die lesenswerte und sehr tiefgründige Streitschrift eines "alten", 60-jährigen, heterosexuellen, verheirateten und weißen Mannes. Alexander Somek ist seit August 2015 Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Wien, wo er 1984 promovierte. Eine Professur und mehrere Gastprofessuren vor allem in den Vereinigten Staaten machten ihn mit den internationalen und aktuellen Debatten um und Theorien über politische Korrektheit, Gendern, Rassismus, Diskriminierung und Intersektionalität vertraut.

Someks Kernthese lautet in etwa: Die die gegenwärtigen Diskurse mitgestaltende politische Linke habe die klassische Sozialdemokratie hinter sich gelassen. Es gehe ihr kaum mehr um die soziale Frage, um soziale Gerechtigkeit und den Kampf gegen soziale Ungleichheit. Im Mittelpunkt heute stehe vielmehr die Inklusion, nämlich der Versuch, "die vormals Diskriminierten und Ausgeschlossenen in prestigereichen Positionen zu sehen", ohne dabei das neoliberale Wirtschaftssystem infrage zu stellen. Somek nennt diese Gruppe deshalb die "neoliberale Linke": urban, akademisch, ohne oder mit wenig Kontakt zu sozial benachteiligten Schichten. Sie gebe sich mit "materiell leerlaufender Symbolpolitik" zufrieden, deren gesellschaftliche Hegemonie sie anstrebe. Die "gläserne Decke" ("glass ceiling") im Feminismus, die Anerkennung von Geschlechterdiversität, das inklusive Schreiben mit Binnen-I, Sternchen oder Doppelpunkten erhalten mehr Aufmerksamkeit als die sozial "Abgehängten" oder der "Gender-Pay-Gap", die Gehaltsschere zwischen den Geschlechtern.

Hat das mit Bosheit zu tun?

Was hat das alles mit Bosheit zu tun? Somek stellt in den Debatten etwa um das Gendern ein emotives, nonkognitivistisches Moralisieren fest. Es wird, so zumindest seine Beobachten, nicht argumentiert und begründet (das ist sowieso häufig als "phallozentrisch" diskreditiert), sondern allein der soziale Akt des Billigens oder Missbilligens von Handlungen und Einstellungen zählt – ganz unabhängig von der Richtigkeit des moralischen Urteils.

Zentral ist das moralisierende "Pfui" oder "Wow". Im sozialen Kontext gilt dann: "Das Moralisieren verkehrt sich in eine Machtfrage. Damit gerät das moralische Urteil notwendig ins Zwielicht, boshaft zu sein". Damit gerate auch das sachliche, begründete Urteilen – Kernstück einer jeden angewandten Ethik – zunehmend aus dem Blickfeld, so Somek. Es zähle vor allem die Gemeinschaft der "richtig" urteilenden, selbsternannten Wächterinnen und Wächter der öffentlichen Moral.

Someks Streitschrift hat Freude an der eigenen komplexen Sprache, die ihre Herkunft aus der klassisch deutschen und angloamerikanischen Philosophie gar nicht verleugnet. Die rechtsphilosophischen Passagen etwa über das Verhältnis von Recht und Moral verlangen einiges an scharfem Verstand und auch Bildung. Der Aufwand aber lohnt sich auf jeden Fall. Brillant ist etwa, wie der Rechtsphilosoph Somek die Kritik von Iris Marion Young an der Idee der Unparteilichkeit mit einem großen Fragezeichen versieht. Hier wird nämlich am Ast gesägt, auf dem frau/man selbst sitzt. Somek verzichtet übrigens fallweise auf das Gendern. Obwohl, so der Autor von Moral als Bosheit, ein auswegloses Dilemma besteht: "Das Gendern ist zwar eine unsinnige Zumutung, wer sich ihm aber gänzlich verweigert, gerät leicht in Verdacht, ein Reaktionär zu sein."

Alexander Somek, "Moral als Bosheit. Rechtsphilosophische Studien". 204 Seiten / € 22,00. Mohr Siebeck- Verlag, 2021.

Damit sitzt Alexander Somek präzise und endgültig zwischen den Stühlen: Die Rechten und Konservativen lehnt er ab, weil sie sich dem möglichen rechtlichen und – hoffentlich möglichen – moralischen Fortschritt verweigern. Die neoliberale Linke ist ihm zu wenig links, zu angepasst und brav.

Etwas zu kurz kommt in Moral als Bosheit eine Reflexion über eine eigene Position, eine Definition und Diskussion von Begriffen wie Kapitalismus, Neoliberalismus oder Sozialismus. Someks Diagnose ist jedenfalls vernichtend: Die sich progressiv gebende Linke sei philosophisch weitgehend nackt, sei dogmatisch und unreflektiert.

Bei der Lektüre stellte sich für den Rezensenten eine gewisse Sehnsucht nach der klassischen Sozialdemokratie ein, die 1889 noch die "Erhebung aus der geistigen Verkümmerung" in Hainfeld in ihr Parteiprogramm aufnahm. Der Rezensent gesteht an dieser Stelle auch, dass auch ihm schon wegen "politisch unkorrekter" Äußerungen Dummheit, Vorurteile, Rassismus oder Bösartigkeit vorgeworfen wurden, und nimmt sich fest vor, in Zukunft "allerlei Anwürfe", ähnlich wie Alexander Somek das formuliert hat, "demütig zu erdulden". (Georg Cavallar, ALBUM, 13.2.2022)