"Wir sind das Licht". Ein bemerkenswertes Romandebüt – und trotz des bedrückenden Stoffs ein echtes Lesevergnügen.

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Dass im reichen, in jeder Hinsicht saturierten Westen bisweilen Menschen verhungern, ist bekannt. Auch dass manche das freiwillig tun – Freiheit kann bekanntlich ja sehr unterschiedlich definiert und interpretiert werden. Dabei assoziiert man Essstörungen meist mit (weiblichen) Jugendlichen. Ein Fall, der vor einigen Jahren in den Niederlanden für Aufregung sorgte, zeigte jedoch, dass auch ältere Menschen von der Thematik betroffen sind: In einer Wohngemeinschaft in Utrecht starb 2017 die 62-jährige Jeannette an Unterernährung. Sie lebte mit ihrer Schwester, deren Mann und einer weiteren Verwandten zusammen, und sie glaubten daran, sich ausschließlich von Licht ernähren zu können.

Nach dem Tod von Jeannette kamen ihre drei Mitbewohner in Untersuchungshaft, man warf ihnen unterlassene Hilfeleistung vor, musste sie jedoch nach kurzer Zeit wieder freilassen. Die Gruppe, die nach wie vor (wenn auch auf zwei Frauen dezimiert) existiert, nennt sich "Kontakt und Musik". Im Internet findet man eine Homepage, auf der sie in fröhlichen Farbe von ihrem Leben erzählen und Bilder ihrer eingefallenen Gesichter posten.

Gerda Blees, "Wir sind das Licht". Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing. € 23,70 Euro / 240 Seiten. Zsolnay, Wien 2022

Die niederländische Autorin Gerda Blees, 1985 geboren und Absolventin der Fine Arts an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam, hörte in den Nachrichten von dem Fall. Und sie beschloss, eine fiktive Geschichte darüber zu schreiben. Was bringt Menschen dazu, sich zu Tode zu hungern beziehungsweise andere dazu zu ermutigen und ihnen dabei zuzuschauen? So viel gleich vorweg: Eine Antwort liefert auch Wir sind das Licht nicht.

Lichtnahrung

Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen hat Blees’ Roman schon jetzt Chancen, das bemerkenswerteste und formal innovativste Debüt des Frühjahrs zu werden. Denn die Autorin beschreibt die Ereignisse in erster Linie aus der Perspektive abstrakter Gegenstände und Naturerscheinungen. Angefangen mit der Nacht, beendet mit dem (Tages-)Licht, legen Dinge und Menschen, jeweils aus der Wir-Perspektive, ihre Sicht auf die Ereignisse dar.

Natürlich kommen die Eltern zu Wort, die Polizei, der "Rechtsbeistand", aber auch der Duft von Orangen (der den einzigen männlichen Bewohner, Petrus, aufgrund traumatischer Ereignisse in der Kindheit in den Wahnsinn treibt), die Fakten, ein Kugelschreiber, zwei Zigaretten, Kognitive Dissonanz, die Erzählung selbst – oder die Socken von Melodie. Diese ist die Schwester der verstorbenen Elisabeth, sie hat die Wohngruppe "Klang und Liebe" gegründet und ihre Mitbewohner, allesamt labil und leicht beeinflussbar, davon überzeugt, dass es eine gute Idee wäre, sich nur noch von Licht zu ernähren. Wegen der spirituellen Befreiung. Oder vielleicht auch, wie die Leserin eher nebenbei erfährt, weil die vier von Elisabeths Sozialhilfe mehr schlecht als recht leben.

Präzise Prosa: Gerda Blees.
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Jedenfalls besuchen sie Online-Seminare von Menschen, die zwar wohlgenährt sind, aber beteuern, nur noch Licht und maximal Luft zu speisen. Und sie lassen sich davon überzeugen, dass jede/r es schaffen kann – wenn er oder sie nur will. Der neoliberale Zauberspruch, dass jede/r seines oder ihres eigenen Glückes Schmied ist: Er zieht auch beim Versuch der Selbstoptimierung, die in Selbstauslöschung endet.

Wenigstens Gemüsesaft zu trinken wäre in dieser Ideologie eigentlich noch okay, und die vierte im Bunde, Muriel, hat eine geradezu erotische Beziehung zum WG-eigenen Entsafter. Doch Melodie, selbst instabil und nach einer gescheiterten Ausbildung zur Cellistin orientierungslos, beherrscht die Kunst der emotionalen Erpressung und Beeinflussung meisterhaft und überzeugt sie doch jedes Mal davon, dass kein Saft die bessere Lösung wäre.

Spiel mit Perspektiven

Aufgrund des (handwerklich sehr sauber konstruierten) Spiels mit den Perspektiven gelingt es Blees nicht nur, trotz des bereits bekannten Ausgangs die Spannung hoch zu halten. Vor allem schafft sie es auf diese Weise, ohne zu verurteilen oder zu belehren, davon zu erzählen, was es bedeutet, wenn man Menschen um jeden Preis ihre "Freiheit" lässt – wenn eine Gesellschaft die psychisch Schwachen lieber stärkeren, manipulativeren Charakteren überlässt, als sich selbst einzumischen oder Stellung zu beziehen.

"Wir leben in einem freien Land", wie die Nachbarn sagen, jedem sein eigener Hausverstand, und es geht einen ja auch nichts an. Dass dann gleich jemand stirbt, konnte man ja nicht ahnen. Ein bemerkenswertes Romandebüt – und trotz des bedrückenden Stoffs ein echtes Lesevergnügen. (Andrea Heinz, ALBUM, 12.2.2022)