Wir an unseren reich gedeckten Tischen: Karl-Markus Gauß macht sich Gedanken über Fragen, die ihm keiner stellt.

Foto: Marco Riebler

Am 20. Februar 2017 bestieg ich die Frühmaschine nach Berlin, um drei Stunden später eine Niederlage zu erleiden. Kurz vor fünf Uhr hatte der Wecker geläutet, und meine Laune war so schlecht gewesen, als hätte ich geahnt, dass mir nach der Qual des Aufstehens und der Anstrengung, das kleine Flugzeug durch heftige Windböen zu leiten, auch der Aufenthalt in Berlin nichts als Verdruss bescheren werde. In einem Hotel unweit des Roten Rathauses, wo ich abends an einer Veranstaltung teilnehmen sollte, gab ich mein Gepäck ab, und als ich wieder auf die Straße trat, blies mir der eiskalte Wind lauter winzige, gefrorene Regentropfen ins Gesicht. Ich beschloss, fürs Erste nicht ziellos herumzustreifen, sondern zur nahen Museumsinsel zu eilen.

Die Erste war groß und mager, die Zweite kleiner, aber kräftiger, beide trugen sie wattierte dunkle Jacken über wallenden Kleidern, und von der Schmalen war mir in der Aufregung nur aufgefallen, dass ihre in der Kälte fast blau gewordene Unterlippe von einem Ring durchbohrt war, von der Kräftigen, dass sie bunt lackierte Fingernägel hatte. In einer Sprache, die ich für Bulgarisch hielt, beschuldigten sie einander, schlechte Menschen zu sein. Als sie neuerlich zu stoßen und schlagen begannen, begriff ich, dass die Situation, meine Würde, die Zivilisation es von mir verlangten, schlichtend einzuschreiten, und so redete ich auf beide ein, was seltsamerweise sogleich Wirkung zeitigte. Über kurz schienen sie besänftigt zu sein, sie lachten jetzt über ihr Verhalten von vorhin, die Angreiferin stupste freundschaftlich auf meinen rechten Oberarm, die Angegriffene strahlte wie unter rasch versiegten Tränen. Die angespannte Situation löste sich in Wohlgefallen, sodass ich mich ans Weitergehen wandte.

Nun kam es, dass das Opfer mich zum Abschied bat, ihr mit ein paar Euro auszuhelfen, ein Wunsch, dem sich ihre Streitgefährtin anschloss. Weil ich die Sache nicht doch noch vermasseln wollte, zog ich unter dem Wintermantel aus der Brusttasche des Sakkos umständlich die Geldtasche hervor, reichte der Ersten einen Fünfeuroschein, nicht ohne beide zu ermahnen, dass sie die Summe später teilen sollten, was die von mir Versöhnten einträchtig versprachen. Als ich mich am Ende der Brücke umwandte, waren sie verschwunden. Es war jetzt zehn Uhr, und es war der erste rundum glückliche Moment des Tages.

Ich nahm es persönlich

Ich war dankbar, aus der Sache so gut herausgekommen zu sein, und schlug den Weg zum Neuen Museum ein, in dem seit ein paar Jahren die einst geraubte, überwirklich schöne Büste der Nofretete ausgestellt wurde. An der Kassa warteten ein paar Leute vor mir, sodass ich Zeit hatte, meine Brieftasche herauszuholen. Da entdeckte ich, dass sich in ihr nicht nur jene fünf Euro nicht mehr befanden, sondern alle Geldscheine, die ich nach Berlin mitgenommen hatte, insgesamt waren es 365 Euro, die fehlten, das wusste ich genau, denn mit 400 war ich losgefahren und außer im Taxi und auf der Brücke hatte ich noch keine Gelegenheit, mehr davon auszugeben. Ich trat aus der Schlange, suchte in den Hosen-, Sakko- und Manteltaschen zuerst panisch, dann methodisch, obwohl ich bereits wusste, zum tölpelhaften Opfer eines Trickdiebstahls geworden zu sein.

Ich nahm das persönlich. Dass ausgerechnet mich zwei Romnija bestahlen, war eine unentschuldbare Schandtat, mich, der ich seit zwanzig Jahren das Unrecht anprangerte, das den Roma allerorts zugefügt wird, und, wo immer ich dazu aufgerufen werde, für sie auftrete … Zu betrügen ist selten rühmlich, aber mich bestohlen zu haben, war verabscheuenswert.

Foto: APA / Barbara Gindl

Mit einer stummen Anklagerede kehrte ich zum Hotel zurück und berichtete der Rezeptionistin, was mir widerfahren war. Sie nahm mein Unglück nicht persönlich und meinte gar, dass ich von Glück sprechen könne, weil mir nur das Geld aus der Geldtasche, nicht diese selbst entwendet worden sei, samt Kreditkarten, Personalausweis und dergleichen. Ich ließ die verschlagene Person, die mit dem Diebspack der Hauptstadt unter einer Decke steckte, wortlos stehen, holte meinen Koffer aus dem Depotraum, schleppte ihn in den zweiten Stock hinauf, wo sich mein inzwischen bezugsfertiges Zimmer befand, und beschloss, Berlin zu strafen, indem ich bis zum Abend keinen Fuß mehr vor die Tür setzte.

In eine simple Falle getappt

Ich fühlte mich elend, auch weil ich in eine so simple Falle getappt war. Nach zwei, drei Stunden kam ich mit mir überein, dass die beiden immerhin äußerst kunstfertig vorgegangen, also echte Könnerinnen waren, die ihr Handwerk beherrschten. Ihre Inszenierung, in der sie die Rolle des arglosen Provinzlers mit mir besetzten, hatte mich vergessen lassen, was ich doch wusste: dass osteuropäische Roma Fremde, die sich in ihre desolaten Slums gewagt oder verirrt haben, als Gäste zu achten und gleichsam unter ihren Schutz zu stellen pflegen, aber dass es unter ihnen natürlich auch welche gibt, die in den wohlhabenden Teil des Kontinents ausschwärmen, um ihre Existenz mitunter auf kriminelle Weise zu bestreiten. Das ist nicht verwunderlich, warum sollten sich in einer Welt, in der er es ausbeuterisch zugeht, ausgerechnet jene frei von Gier, Berechnung, Gewalt als die edlen Menschen des Elends bewähren, denen es am schlechtesten geht? Ich versuchte mir die Situation zu vergegenwärtigen und kam zum Schluss, dass der artifiziell durchgeführte Diebstahl nur geschehen sein konnte, als ich die Geldtasche noch in der linken Hand hielt, mit der rechten aber ihre Hände schüttelte, die sie mir zum Zeichen der Dankbarkeit und Freundschaft entgegenstreckten.

Ich zauderte, meinen Bekannten zuhause von meinem Berliner Desaster zu berichten, finden sich doch mittlerweile auch unter ihnen einige, die aus ihrer Abneigung gegen die bettelnden Roma kein Hehl mehr machen. Allerdings haben sie dabei selbst kein gutes Gefühl, um nicht zu sagen Gewissen, und daher fahren sie mit allerlei Beobachtungen, Vermutungen, Theorien auf, die es ihnen erleichtern, sich zu ihrem Unmut, ihrem wachsenden Groll zu bekennen.

Karl-Markus Gauß, "Die Jahreszeiten der Ewigkeit". € 25,70 / 320 Seiten. Zsolnay- Verlag, 2022

Was ich stets gefragt werde, wenn unsere Gespräche hitzig werden: Ob ich denn nicht sähe, dass zwischen den Roma Verhältnisse von Abhängigkeit, ja Ausbeutung herrschten? Natürlich sehe ich das, habe ich doch die Schuldknechtschaft slowakischer Roma – die von keiner staatlichen Bank Kredite bekommen und sich daher an Kredithaie aus ihrer eigenen Gruppe verkaufen müssen – in meiner Reportage über die Hundeesser von Svinia selbst beschrieben. Wer aber, der sich so an mich wendet, würde mich jemals gefragt haben, ob ich wisse, dass die Weltwirtschaft auf einem globalen Ungleichgewicht beruhe? Oder ob ich noch nie davon gehört hätte, dass selbst in Europa ganze Regionen zu abgehängten Peripherien werden, deren Ressourcen – seien es geschützte Wälder, die westliche Konzerne niederholzen, oder Menschen, die sich um einen Hungerlohn auf den Plantagen und in den Schlachthöfen unserer reichen Länder verdingen – systematisch ausgeplündert werden?

Nein, solche Fragen stellt mir keiner, dem die Ausbeutung von Roma durch Roma auffällt und missfällt. Um die Ausbeutung, die Konzerne, Geschäftemacher, honorable Halsabschneider betreiben, um die Ausbeutung, die für den, der sie nicht sehen will, unsichtbar bleibt, machen die Leute kein Aufhebens mehr, als handelte es sich dabei um den naturgegebenen Zustand der Welt.

Keinen meiner Bekannten, die sich nicht scheuen, Waren von Amazon zu beziehen, habe ich darüber klagen hören, dass dieser Konzern seine überwachten, gehetzten, von jedweder Mitbestimmung ausgeschlossenen Mitarbeiter einer Ausbeutung und Rechtlosigkeit aussetzt, die vor zwanzig Jahren zu Massenstreiks geführt hätte. Was Amazon anstellt, wie der Konzern weltweit Arbeiterrechte zertrümmert hat, ist ihnen bekannt, aber es wird als das Unabänderliche hingenommen. Zum Ausgleich dafür sind sie rechtschaffen empört, wenn es nicht gegen Ausplünderung im Großen geht, sondern gegen jene, die ganz unten stehen, nein, kauern. Sie, die Elenden, sind es, die als die wahren Ausbeuter verachtet und gehasst werden, nötigen sie uns doch dazu, sie zur Kenntnis zu nehmen.

Der größte Betrug

Zufällig stoße ich auf die Spur, die der geniale Mathematiker Anatoli Fomenko, der an der Lomonossow-Universität in Moskau ein eigenes Institut leitet, durch Russland und die Welt der Wissenschaften zieht. Wovon er besessen ist und was er mit einem Stab an Professoren, Assistenten, Computerspezialisten beweisen möchte, nein, bewiesen hat: dass tausend Jahre europäischer Geschichte nicht einfach verfälscht, sondern schlicht erfunden wurden, im Rahmen des größten Betrugs der Weltgeschichte. Jesus ist in Wahrheit nicht in Nazareth, sondern 1053 auf der Krim geboren worden, wo die Bibel auch spielt, ehe sie planmäßig nach Judäa und Galiläa verlegt wurde. Auf der Krim war es, dass das Abendland erfunden und die Weltzivilisation von der russischen Kultur angestoßen wurde. Verständlich, dass die Krim, der Heilsort der Menschheit, wieder unter russische Obhut gestellt werden musste. Fomenko bietet Abertausende wissenschaftlicher Quellen von der Archäologie bis zur Linguistik auf, die sich zu einer absolut logischen, geschlossenen Gegen-Geschichte fügen.

Die griechische Antike hat es überhaupt nicht gegeben, wie der Stab von Fomenkos Sprachwissenschaftlern, Mythenforschern, Geologen und Archäologen stichhaltig nachgewiesen hat, beim klassischen Griechisch handelt es sich um die Geheimsprache von protochristlichen Funktionären, die kurz vor Jesu Geburt auf der Krim lebten … So etwas wird nicht nur in Foren des Internets diskutiert, in der wachsenden Gemeinde derer, die die Lügen eines seit ewigen Zeiten sich verschwörenden Weltestablishments durchschauen; nein, mit so etwas erhält man heute auch ein mit enormen Summen finanziertes Institut an der bedeutendsten russischen Universität und den Staatspreis für Wissenschaften der Russischen Föderation.

Fortschritte in Ungarn

Auch in Ungarn macht die Wissenschaft Fortschritte. Dass Jesus Russe war, wird Fomenko trotz der überwältigenden Fülle an Beweisen, die er an seinem staatlichen Institut gesammelt hat, in Ungarn bestritten. Die Argumente, die der Archäologe Kornél Bakay ins Treffen führt, sind keinen Deut weniger schlüssig als die von Fomenko und seinem akademischen Team. Der ungarische Gelehrte, der sein Forscherleben dem Nachweis gewidmet hat, dass durch die Jahrhunderte eine jüdische Weltverschwörung wirkt, deren Ziel die Schwächung der magyarischen Identität ist, hat das letzte Geheimnis des Christentums gelüftet. Jesus Christus war kein Russe, wie man bisher glauben mochte, sondern Ungar, genau genommen ein skythischer Prinz, aber die Skythen waren bekanntlich die direkten Vorfahren der Magyaren. Folglich hat sich Jesus mit seinen Aposteln auf Skythisch unterhalten, also in einer Art von Altmagyarisch. Dass sie beim letzten Abendmahl ein herzhaftes Szegediner Gulyás verzehrten und etliche Krüge Tokajer leerten, ist im Lichte dieser Forschungen sehr wahrscheinlich, und dass Professor Bakay für seine wissenschaftlichen Verdienste von seinem Ministerpräsidenten Orbán mit dem höchsten Staatsorden der skythischen Republik ausgezeichnet wurde, versteht sich von selbst.

Foto: APA / Barbara Gindl

Doch halt, wenn Jesus Ungar war, dann war er auch ein halber Österreicher! Das hat lange vor den strengen Wissenschaftlern Fomenko und Bakay schon der Dichter Ernst Jandl erkannt, der einmal schrieb: "Nicht nur Jesus, auch Hitler war Österreicher!"

Karl-Markus Gauß, geb. 1954, ist österreichischer Schriftsteller. Er lebt als Essayist, Kritiker und Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik" in Salzburg. Am Abend des 16. März 2022 bekommt Gauß den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, der mit 20.000 Euro dotiert ist, für sein Buch "Die unaufhörliche Wanderung" (Zsolnay-Verlag, 2020) verliehen. Die Laudatio hält die österreichische Literaturkritikerin Daniela Strigl. Die Leipziger Buchmesse, die von 17. bis 20. März hätte stattfinden sollen, wurde abermals abgesagt. Die geplante "Auftaktveranstaltung" für Österreichs Gastauftritt 2023 wird nun in anderer Form stattfinden. (Karl-Markus Gauß, ALBUM, 13.2.2022)