Während Russlands Armee in Belarus und bald auch am Don für den "Kampfeinsatz" trainiert, bereitet sich auch die militärisch weit unterlegene Ukraine auf den Ernstfall vor.

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Die westlichen Verbündeten haben in einer Telefonkonferenz zur Ukraine-Krise noch einmal ihre Entschlossenheit betont, mit schnellen und tiefgreifenden Sanktionen auf eine mögliche russische Invasion in der Ukraine zu reagieren. Aus deutschen Regierungskreisen hieß es am Freitag, die Lage werde von den Teilnehmern aus Europäischer Union und Nato als "sehr, sehr ernst" eingeschätzt. Man wolle weiter versuchen, Russland mit diplomatischen Bemühungen zur Deeskalation zu bewegen.

"Es gilt einen Krieg in Europa zu verhindern", schrieb Regierungssprecher Steffen Hebestreit auf Twitter. US-Präsident Joe Biden hatte sich am Freitagnachmittag mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz und weiteren Verbündeten über den Ukraine- Konflikt ausgetauscht. Eingeladen waren auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratschef Charles Michel, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, der britische Premierminister Boris Johnson, Polens Präsident Andrzej Duda, der rumänische Staatspräsident Klaus Iohannis, Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und Kanadas Premier Justin Trudeau.

Im Fall eines Angriffs würde die EU Sanktionen gegen Russlands Finanz- und Energiesektor verhängen, betroffen wäre außerdem "die Ausfuhr von High-Tech-Produkten", erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach der Telefonkonferenz mit einer Reihe westlicher Staats- und Regierungschefs zum Ukraine-Konflikt. Die Strafmaßnahmen würden "massiv" ausfallen, betonte sie zudem.

Das Weiße Haus hatte erklärt, in dem Gespräch solle es um die "gemeinsame Besorgnis über Russlands fortgesetzte militärische Aufstockung" an der ukrainischen Grenze gehen. Ziel sei es, sich weiter über die "Koordinierung von Diplomatie und Abschreckung" auszutauschen.

Einmarsch "jederzeit" möglich

Zuvor hatte US-Präsident Biden Bürgerinnen und Bürger seinen Landes aufgefordert, sie sollten die Ukraine "jetzt" verlassen. Die Lage sei ernst und nicht mit der Situation in Afghanistan zu vergleichen, wo die USA vergangenen Sommer angesichts der Machtübernahme der Taliban eine chaotische Evakuierungsaktion organisiert hatten. Russland sei keine Terrororganisation, sondern unterhalte eine der größten Armeen der Welt. Entsprechend dynamisch sei die Lage: "Die Dinge könnten schnell verrückt werden." Falls Russlands Präsident Wladimir Putin "so töricht" sei, in die Ukraine einzumarschieren, sei er hoffentlich "klug genug, nichts zu tun, was sich negativ auf US-Bürger auswirkt", richtete Biden dem Kreml aus.

Wer entgegen der eindringlichen Warnung doch in dem osteuropäischen Land bleibt, dem könnten die USA im Fall eines vom Westen befürchteten russischen Großangriffs aber jedenfalls nicht mittels Truppenentsendung retten. Schließlich stünden einander dann amerikanische und russische Soldaten mit der Waffe in der Hand gegenüber – und dies könnte nach Bidens Worten "einen Weltkrieg auslösen".

Die Ukraine selbst wollte den dringlichen Worten aus den USA nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Die Situation habe sich "nicht radikal geändert", sagte Außenminister Dmytro Kuleba am Freitag.

Großbritannien verteidigt Waffenlieferungen an die Ukraine

Unterdessen hat das Vereinigte Königreich Waffenlieferungen an die Ukraine verteidigt. "Die Waffen, die wir den Ukrainern zur Verfügung gestellt haben, waren defensive taktische Waffen, sie sind nicht strategisch, sie haben eine kurze Reichweite", sagte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace am Freitag nach einem Treffen mit seinem russischen Kollegen Sergej Schoigu in Moskau.

"Sie stellen keinesfalls eine Gefahr für einen Drittstaat dar, solange dieser Staat nicht (in die Ukraine) einmarschiert." Wallace warnte, die Position der russischen Truppen entlang der ukrainischen Grenze gebe ihnen die Möglichkeit, "jederzeit" das Nachbarland anzugreifen.

Zugleich betonte er: "Ich habe von der russischen Regierung deutlich gesagt bekommen, dass sie keine Absicht hat, in die Ukraine einzumarschieren." Wallace betonte, ein russischer Angriff werde "tragische Konsequenzen" haben. Er habe vertrauensbildende Maßnahmen besprochen, um die russischen Bedenken zu zerstreuen, dass die Nato nicht nur eine defensive Allianz ist.

Keine Rücksicht auf China

Dass es angesichts der heiklen Situation im Fall des Falles sehr wohl schnell gehen könnte, betonte US-Außenminister Antony Blinken. Sein Ministerium erließ am Freitag – anders als Österreich – eine explizite Reisewarnung für die Ukraine. Ein russischer Einmarsch sei "jederzeit" möglich, sagte Blinken. Dass der Kreml, der nach wie vor jegliche Angriffspläne zurückweist, wie vielerorts angenommen, Rücksicht auf die Olympischen Winterspiele im befreundeten China nehmen würde, ist für Blinken alles andere als gewiss.

Auch Nato-Generalsekretär Stoltenberg schätzte am Freitag bei einem Besuch der Luftwaffenbasis Mihail Kogălniceanu in Rumänien das Risiko einer "totalen Invasion der Ukraine" als "hoch, sehr hoch" ein. Am Donnerstag war dort eine Vorhut des in Bayern stationierten Stryker Brigade Combat Teams der US-Armee eingetroffen, deren Verlegung Biden kürzlich genehmigt hatte.

Sorge wegen Manöver

Ungeachtet der westlichen Nervosität kündigte Russland am Freitag ein weiteres Manöver in unmittelbarer Nachbarschaft zur Ukraine an. 400 Soldaten samt Panzern und Drohnen nähmen an einer "taktischen Übung" in der Region Rostow am Don teil, teilte das Verteidigungsministerium mit. Ziel sei das Training für den "Kampfeinsatz", hieß es.

Um "Missverständnisse" wegen der bereits angelaufenen Großübung in Belarus, an dem laut US-Einschätzung 30.000 russische Soldaten teilnehmen, zu verhindern, telefonierte US-Generalstabschef Mark Milley am Donnerstag mit seinem belarussischen Kollegen Viktor Gulewitsch. Das Manöver unweit der ukrainischen und der EU-Außengrenze ruft aktuell im Westen große Besorgnis hervor, weil man es als Übung für einen bevorstehenden Angriff auf die Ukraine interpretiert.

Die Bemühungen des Westens, einen Waffengang doch noch mittels Diplomatie abzuwenden, verliefen bisher jedenfalls weitgehend im Sand. Moskau erklärte am Freitag, der Brief, den die EU als kollektive Antwort auf Russlands Forderungen nach Sicherheitsgarantien an einzelne Mitgliedsstaaten verfasst hat, sei "respektlos" und "ohne Substanz".

Auch die jüngste Gesprächsrunde im sogenannten Normandie-Format in Berlin endete in der Nacht auf Freitag ohne Fortschritte. Moskau warf den deutsch-französischen Vermittlern vor, zu wenig Druck auf die ukrainische Regierung auszuüben. Diese erklärte, Russland habe sie zu Gesprächen mit den prorussischen Separatisten in der Ostukraine gedrängt, was man aber ablehne. Ein weiteres Treffen soll im März stattfinden. Doch die Zeit drängt. (flon, APA, 11.2.2022)