Joe Biden warnte den russischen Präsidenten Wladimir Putin davor, gegen US-Bürger in der Ukraine vorzugehen. Er sagt, er will weiterhin keine US-Truppen entsenden.

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US-Außenminister Antony Blinken hält einen russischen Einmarsch in die Ukraine für "jederzeit" möglich.

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Washington – Das Weiße Haus bestätigte am Freitagnachmittag, dass US-Präsident Joe Biden für 17 Uhr eine hochrangige Telefonschaltung mit transatlantischen Staats- und Regierungschefs von Kanada, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Rumänien, sowie der Nato und der EU anberaumt hat. Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise wolle Präsident Biden Russlands militärische Aufrüstung nahe der Ukraine besprechen.

US-Präsident Joe Biden hatte unterdessen den Ton gegenüber Russland im Ukraine-Konflikt wieder verschärft. In einem voraufgezeichneten Interview mit dem US-Sender NBC, das am Donnerstag veröffentlicht wurde, rief Biden US-Bürger in der Ukraine auf, das Land "jetzt" zu verlassen. US-Außenminister Antony Blinken hält einen russischen Einmarsch in die Ukraine für "jederzeit" möglich. Das schließe den Zeitraum während der Olympischen Winterspiele mit ein, betonte er bei einem Besuch in Australien.

"Wir haben es hier mit einer der größten Armeen der Welt zu tun", sagte Biden in dem Interview mit Verweis auf die russische Truppenansammlung an der Grenze zur Ostukraine. "Das ist eine ganz andere Situation, und die Dinge könnten schnell verrückt werden." Biden warnte seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin davor, US-Bürgern Schaden zuzufügen. Er hoffe, dass Putin, wenn er "so töricht" sei, in die Ukraine einzumarschieren, "klug genug ist, nichts zu tun, was sich negativ auf amerikanische Bürger auswirkt".

Aufrufe zur Ausreise

Die US-Regierung hatte bereits im Jänner ihren Bürgern empfohlen, die Ukraine aufgrund der "unvorhersehbaren" Lage selbstständig zu verlassen. Sie hatte damals auch die Abreise der Angehörigen von US-Diplomaten in der ukrainischen Hauptstadt Kiew angeordnet und ihre Bürger vor Reisen nach Russland gewarnt.

Biden bekräftigte, dass er unter keinen Umständen US-Truppen in die Ukraine schicken würde, auch nicht zur Rettung von US-Bürgern im Falle einer russischen Invasion. Dies würde "einen Weltkrieg" auslösen, sagte er und bekräftigte: "Wenn Amerikaner und Russen anfangen, aufeinander zu schießen, befinden wir uns in einer ganz anderen Welt."

Das kanadische Außenministerium rief seine Staatsbürger auf seiner Website ebenfalls zur Ausreise auf: "Wenn Sie sich in der Ukraine befinden, sollten Sie sie verlassen." Russische Militäraktionen in der Ukraine könnten den Reiseverkehr im ganzen Land stören. Auch die Niederlande und Japan riefen ihre Landsleute dazu auf, die Ukraine zu verlassen.

Das österreichische Außenministerium rät bereits seit Ende Jänner im Zusammenhang mit russischen Truppenbewegungen von allen "nicht unbedingten Reisen in die Ukraine" ab, verzichtet aber auf eine explizite Reisewarnung. In der ukrainischen Botschaft in Wien sah man am Freitag keinen Grund dafür, von Reisen in die Ukraine generell abzuraten und verwies auf eine bereits monatelange Militärpräsenz Russlands in Grenznähe.

Nato verstärkt Truppen

Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg schätzte am Freitag das Risiko eines bewaffneten Konflikts in Europa und einer "totalen Invasion der Ukraine" durch Russland als "hoch, sehr hoch" ein. Anlässlich eines Besuches des südostrumänischen Luftwaffenstützpunktes Mihail Kogalniceanu sprach Stoltenberg erneut von einem "gefährlichen Moment für die europäische Sicherheit".

Die Nato hat unterdessen angesichts des russischen Truppenaufmarschs den Ausbau ihrer Präsenz im östlichen Bündnisgebiet auf den Weg gebracht. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur nahmen die 30 Mitgliedsstaaten in dieser Woche in einem schriftlichen Beschlussverfahren einen entsprechenden Vorschlag der Militärs an.

Dieser zielt insbesondere darauf ab, zur Abschreckung Russlands auch in südwestlich der Ukraine gelegenen Nato-Ländern wie Rumänien multinationale Kampftruppen zu stationieren. Bisher gibt es die sogenannten Battlegroups nur in den baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland sowie in Polen.

Der Beschluss der Alliierten soll am kommenden Mittwoch bei einem Treffen der Verteidigungsminister noch einmal bestätigt werden. Dann wird auch die offizielle Ankündigung erfolgen. Die Umsetzung der Planungen könnte noch in diesem Frühjahr erfolgen.

Militärmanöver in Belarus

Russland hat nach westlichen Angaben in den vergangenen Monaten an der Grenze zur Ukraine mehr als 100.000 Soldaten zusammengezogen. Dies schürt in der Ukraine wie im Westen die Furcht vor einem möglichen Großangriff Russlands auf das Nachbarland. Russland weist jegliche Angriffspläne zurück. Zugleich führt der Kreml an, sich von der Nato bedroht zu fühlen.

Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums telefonierte US-Generalstabschef Mark Milley am Donnerstag mit seinem belarussischen Kollegen Viktor Gulewitsch, um die Gefahr von "Fehleinschätzungen" vor dem Hintergrund eines Militärmanövers in der nahe der ukrainischen Grenze gelegenen Region Brest zu verringern. Den USA zufolge wurden rund 30.000 Soldaten aus Russland nach Belarus verlegt.

Nach russischen Angaben geht es bei der Übung darum, die Streitkräfte darauf vorzubereiten, "externe Aggressionen" abzuwehren. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Moskau aber vor, "psychologischen Druck" auf sein Land auszuüben.

US-Langstreckenbomber in Großbritannien

Russland hatte außerdem sechs Kriegsschiffe zu Marineübungen ins Schwarze Meer und ins benachbarte Asowsche Meer entsandt. Kiew verurteilte die Anwesenheit dieser Schiffe als einen "beispiellosen" Versuch, die Ukraine von beiden Meeren abzuschneiden.

Unterdessen teilte das US-Militär am Donnerstag mit, dass Langstreckenbomber des Typs B-52 zusammen mit Bodenpersonal auf dem britischen Luftwaffenstützpunkt Fairford in England gelandet seien. Sie sollen demnach an einer "seit langem" geplanten Nato-Übung teilnehmen. Außerdem waren laut Angaben vom Donnerstag im vergangenen Monat vier Zerstörer zu Nato-Übungen in das von der Sechsten US-Flotte abgedeckte Gebiet, das auch das Mittelmeer umfasst, entsandt worden.

"Schwierige" Gespräche im "Normandie"-Format

Eine politische Lösung der Ukraine-Krise wird nach Ansicht von Expertinnen und Experten immer schwieriger. "Es gibt für keine Seite aktuell die Möglichkeit, gesichtswahrend zu deeskalieren", sagte der Russland-Experte der Universität Innsbruck, Gerhard Mangott, der dpa. Zugleich bedeuteten weder der Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze noch die aktuellen Manöver automatisch eine Vorbereitung auf einen Krieg. Für den russischen Präsidenten Putin gehe es augenscheinlich darum, durch eine immer brisantere Drohkulisse den Westen doch noch zum Einlenken zu bewegen, sagte Mangott weiter.

Vor der Reise des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz nach Kiew und Moskau beendeten Vertreter beider Seiten ihr zweites Treffen im "Normandie"-Format seit Beginn der aktuellen Krise ohne greifbares Ergebnis. Nach fast zehnstündigen Verhandlungen in Berlin zogen die deutsch-französischen Vermittler am Donnerstagabend ein nüchternes Fazit: In "schwierigen Gesprächen" zwischen den Gesandten Russlands und der Ukraine seien "die unterschiedlichen Positionen und verschiedene Lösungsoptionen deutlich herausgearbeitet" worden. Die russische Seite warf den Vermittlern anschließend vor, zu wenig Druck auf die ukrainische Regierung auszuüben.

Die erste derartige Viererrunde seit Beginn der aktuellen Krise um den russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze hatte Ende Jänner in Paris stattgefunden. Ein weiteres Treffen in diesem Normandie-Format wurde nun für März vereinbart.

Unklarheit über Lieferung von DDR-Waffen

Unterdessen lässt die deutsche Regierung Estland weiter im Unklaren, ob es neun Artilleriegeschütze aus DDR-Beständen an die Ukraine liefern darf. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas sagte der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstagabend nach einem Gespräch mit Scholz in Berlin, es gebe immer noch keine offizielle Antwort auf die Anfrage ihres Verteidigungsministeriums. "Wenn man sich ihre öffentliche Meinung anschaut, sieht es eher danach aus, dass es ein Nein wird."

Die neun Haubitzen waren von der deutschen Bundeswehr erst an Finnland abgegeben worden und dann von dort nach Estland gelangt. Es ist vertraglich geregelt, dass Deutschland einer Weitergabe zustimmen muss. Die deutsche Regierung lehnt die Lieferung tödlicher Waffen an die Ukraine bisher jedoch ab, weil sie grundsätzlich keine Waffen in Krisengebiete liefern wolle. Scholz traf am Donnerstag die Staats- und Regierungschefs aller drei baltischen Staaten zum Abendessen und sicherte ihnen den Beistand Deutschlands zu. (red, APA, 11.2.2022)