Ronald Rohrer spricht sich für eine Überarbeitung des Verbrechensopfergesetzes aus.

APA/Expa/Groder

Fast ein Jahr dauerte es, bis die Regierung nach dem Wiener Terroranschlag konkrete Pläne für die finanzielle Unterstützung von Opfern und Hinterbliebenen vorlegte. Im September teilte Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) schließlich mit, dass die bisherigen Möglichkeiten für Entschädigungszahlungen nicht ausreichen würden. Eine eigens eingerichtete Kommission und die Opferschutzeinrichtung Weißer Ring betreuen nun den mit 2,2 Millionen Euro dotierten Fonds.

Ronald Rohrer, Vorsitzender der Expertenkommission, berichtet im STANDARD-Gespräch erstmals seit der Errichtung dieses Fonds über die bisherige Arbeit und die Auszahlungen. Der ehemalige Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs (OGH) plädiert zudem für eine Überarbeitung des Verbrechensopfergesetzes – also eines Vehikels, das grundsätzlich für alle Opfer Unterstützungsleistungen ermöglicht.

STANDARD: Vor über vier Monaten wurde bekanntgegeben, dass ein Fonds zur finanziellen Unterstützung von Terroropfern eingerichtet werden soll. Was ist seither passiert?

Rohrer: Die Kommission hat sich bisher dreimal getroffen. Wir konnten bisher Vorschüsse auszahlen für einige der besonders schwer Verletzten, ebenso Begräbniskosten. Jetzt sind wir gerade dabei, Vorschüsse von Trauerschmerzengeld in der Höhe von jeweils 10.000 Euro an Hinterbliebene auszuzahlen. Das betrifft vorerst insgesamt neun enge Angehörige. In den nächsten Wochen werden wir wahrscheinlich mit regulären Auszahlungen an die ersten der besonders schwer betroffenen Opfer beginnen können.

STANDARD: Wie viele Betroffene haben sich bisher gemeldet?

Rohrer: Beim Opferschutzverein Weißer Ring, der ja weit über die Kommission hinaus betreuend und beratend tätig ist, haben sich etwa 200 Personen gemeldet. Bei jenen, die unmittelbar Ansprüche an die Kommission haben, halten wir bei ungefähr sechzig Personen.

STANDARD: Es werden jene entschädigt, die Angehörige verloren haben, die angeschossen wurden oder auch unter psychischen Folgen leiden. Wie geht die Kommission hier vor?

Rohrer: Bei der Gruppe der Angehörigen müssen es nahe Angehörige sein, also Eltern, Kinder, Ehegatten, Lebensgefährten oder Geschwister, die eine sehr nahe Beziehung zueinander hatten. Bei jenen, die körperlich oder psychisch verletzt wurden, kommt es auf die Entfernung zum Täter an. Da gibt es jene, die direkt im Feuer standen, auf die mitunter auch gezielt wurde. Dann gibt es jene, die unter Todesangst und Lebensgefahr geflüchtet sind. Und die dritte Gruppe hatte keinen unmittelbaren Kontakt, war aber zum Beispiel gezwungen, stundenlang in einem Keller auszuharren.

STANDARD: Wie lässt sich das Leid von Terroropfern in der Praxis dann bewerten?

Rohrer: Ganz klar: Man kann es nicht bewerten. Es geht nicht darum, das Leid durch Geldzahlungen aus der Welt zu schaffen. Sondern es geht darum, Unterstützung zu bieten. Es soll auch ein Zeichen der Republik sein, die hier bemüht ist, diesen Opfern das Leid zu erleichtern. Denn in Wahrheit hat der Terroranschlag nicht den einzelnen Menschen gegolten, sondern sollte das gesamte staatliche System erschüttern.

STANDARD: Ist der Fonds auch bis zu einem gewissen Grad ein Eingeständnis dafür, dass staatliche Behörden im Vorfeld des Anschlags bei der Prävention versagten?

Rohrer: Nein, es ist keinesfalls ein Schuldeingeständnis. Es geht darum, dass die Republik sich in der Rolle des angegriffenen Opfers sieht und die Personen, die an ihrer Stelle verletzt wurden, in einer – wie ich hoffe – angemessenen Form zu unterstützen versucht.

STANDARD: Bis zur Errichtung des Fonds ist fast ein Jahr vergangen. Viele Opfer und Hinterbliebene fühlten sich im Stich gelassen, es kam auch schon zu Amtshaftungsklagen. Könnte die Arbeit der Kommission die Prozesse noch beeinflussen?

Rohrer: Wir arbeiten unabhängig, auch von Gerichtsverfahren. Unsere Aufgabe ist es, rasch und unbürokratisch Hilfe zu leisten. Wie darauf in einem Verfahren reagiert wird, ist Sache der jeweiligen Parteien. Zu betonen ist allerdings, dass es zu keinen Doppelzahlungen kommen darf. Der Betroffene muss sich im Falle eines Gerichtsverfahrens alles, was er vom Staat aufgrund dieser Verletzung bereits erhalten hat, anrechnen lassen.

STANDARD: Wie viel Geld wird nach dem jetzigen Stand aus dem Fonds ausbezahlt?

Rohrer: Grob gerechnet sind wir derzeit bei den vorliegenden Anträgen bei 1,3 Millionen Euro, die wir sukzessive abarbeiten werden, wobei das eine bestimmte Verfahrensweise voraussetzt: Wir brauchen Sachverständigengutachten, wir können nicht ohne Grundlage Geld ausbezahlen. Das dauert in etwa zwischen zwei und vier Monate. Ich gehe davon aus, dass sich noch mehr Personen melden werden. Insgesamt haben wir Mittel in der Höhe von 2,2 Millionen Euro zur Verfügung, wobei bei Bedarf nachgebessert werden kann.

STANDARD: Wenn es nach so einem Ereignis einen eigens eingerichteten Fonds braucht, bedeutet das nicht, dass das Verbrechensopfergesetz reformiert werden müsste, weil es offenbar keine ausreichende Hilfe bietet?

Rohrer: So etwas wie dieser fürchterliche Anschlag wurde bei der Gesetzeswerdung des Verbrechensopfergesetzes überhaupt nicht bedacht. Da hatte man alltägliche Verbrechen im Hinterkopf, dafür wäre es vielleicht einigermaßen ausreichend gewesen. Ich nehme an, dass man über kurz oder lang überlegen wird, das Verbrechensopfergesetz den tatsächlichen, heutigen Gegebenheiten anzupassen. Aber ich kann natürlich nicht für den Gesetzgeber sprechen.

STANDARD: Könnte der Fonds mit Blick auf etwaige künftige Anschläge oder Amokläufe auch als eine Art Dauereinrichtung bestehen bleiben?

Rohrer: Der aktuelle Fonds wurde speziell nur für diesen Anschlag eingerichtet. Sobald die Kommission die Tätigkeit beendet hat, ist auch der Fonds beendet. Einer gesetzlichen Novellierung würde ich deshalb positiv gegenüberstehen. Ich gebe aber auch zu bedenken, dass die Beurteilung solcher in ihrer Dimension oft schwer vorhersehbaren Ereignisse eine Flexibilität erfordert, um sie adäquat erfassen zu können. Denkbar wäre zum Beispiel eine Mischform: dass man durch eine Novellierung generell höhere Beträge im Verbrechensopfergesetz möglich macht, bei Bedarf aber auch derartige Fonds zusätzlich hochziehen kann. (Vanessa Gaigg, 14.2.2022)