Wenn von einem Universalgelehrten die Rede ist, denken viele sofort an Leonardo da Vinci. Der englische Begriff des "Renaissance Man", der auch noch die passende Epoche beinhaltet, macht das besonders deutlich. Der aus dem heutigen Italien stammende da Vinci (1452–1519) tat sich insbesondere künstlerisch hervor und schuf weltberühmte Werke wie die "Mona Lisa" und "Das Abendmahl". Neuerer Forschung zufolge geht sein heutiges Image als ideenreicher Ingenieur allerdings wohl auf Benito Mussolini zurück, der ihn – passend zum Futurismus – als Schöpfer visionärer Technik, vom Hubschrauber bis zum Panzer, inszenieren ließ. Dabei gab es entsprechende Prototypen bereits früher, die da Vinci in Skizzen aufgriff. Ihm ging es offenbar mehr um Design als um die Umsetzbarkeit in der realen Welt.

Ideale Proportionen stellte er auch in der Federzeichnung "Der vitruvianische Mensch" dar, die an seine anatomischen Studien heranführt. Über 30 Jahre hinweg beschäftigte er sich genauer mit dem Aufbau menschlicher Körper, sezierte wohl selbst Leichen und fertigte etwa die Skizze eines Fötus in einer Gebärmutter an. Ein Kremser Forschungsteam, das vor allem seine Studien von Kiefer und Zähnen analysierte, stellte nun in einer Überblicksarbeit fest: Da Vinci identifizierte die Kieferhöhle, eine paarige Nasennebenhöhle oberhalb der oberen Zahnreihe, schon 150 Jahre vor ihrer offiziellen Entdeckung korrekt. Ebenso wie den Zusammenhang zwischen Zahnform und Funktion der Zähne.

Antikes Wissen zurückerlangen

Dem anatomischen und physiologischen Erbe da Vincis gingen der Anthropologe und Direktor des Zentrums für Natur- und Kulturgeschichte des Menschen, Kurt W. Alt von der Danube Private University (DPU) in Krems (Niederösterreich), und die Kunsthistorikerin und Zahnärztin Iris Schuez im "Journal of Anatomy" nach.

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In den genauen Zeichnungen da Vincis lassen sich auch Details der Nasennebenhöhlen erkennen. Eine davon, die Kieferhöhle (Sinus maxillaris), befindet sich paarig im Oberkieferknochen. Auch Zahnwurzeln können in diesen Hohlraum hineinragen.
Foto: Luke MacGregor / Reuters

In einigen Zeichnungen und Notizen hat sich der Künstler auch mit der Beschaffenheit des Schädels, speziell mit dem Kiefer- und Zahnbereich, auseinandergesetzt. Fünf 1489 angefertigte Skizzen, die der britischen Royal Library des Schloss Windsor gehören und in der Studie gezeigt werden, zeigen die Zahnanatomie, das Nerven- und Blutgefäßsystem und die Nasennebenhöhlen bereits sehr detailliert, wie Alt und Schuez schreiben. Eine handschriftliche Seite mit Schlussfolgerungen zu den Zeichnungen stammt aus dem Jahr 1508.

In der Epoche der Renaissance war die Zahnheilkunde noch kein eigenes wissenschaftliches Feld. Da Vinci war stark daran beteiligt, in jener Zeit seit der Antike verloren gegangenes anatomisches Wissen wieder zurückzuerlangen. Weil sein wissenschaftlicher Zugang damals sehr innovativ war, blieben da Vincis Aufzeichnungen auch für viele seiner Zeitgenossen schwer nachvollziehbar. Seine Auseinandersetzung mit Zähnen könne mit seinem allgemein breiten wissenschaftlichen, aber auch mit seinem künstlerisch-ästhetischem Interesse zu tun gehabt haben, heißt es in der Arbeit.

Lebende Zahnstrukturen und die Physik des Kauens

Zwei der Zeichnungen befassen sich unter anderem mit den Kieferhöhlen – und das 150 Jahre vor ihrer "Entdeckung" durch den britischen Anatomen Nathaniel Highmore, wie Schuez und Alt mit Bezug auf frühere Analysen festhalten. Da Vincis Aufzeichnungen würden auch zeigen, dass er die Zähne nicht als "totes Gewebe", sondern als lebende Strukturen gesehen hat. In den Zeichnungen findet sich laut den Fachleuten auch die erste korrekte Angabe zu der Zusammensetzung des menschlichen Gebisses mit vier Schneidezähnen, zwei Eckzähnen, vier Vorbackenzähnen und sechs Backenzähnen pro Kiefer.

Seine Beschreibung der vier verschiedenen Zahntypen ergänzte da Vinci später durch eine Analyse ihrer Funktion. Dabei kam er zu dem richtigen Schluss, dass bei der Bewegung von Ober- und Unterkiefer die stärksten Kräfte im hinteren Teil des Gebisses und damit nahe an dem Punkt wirken, von dem die Kaubewegung ausgeht. Daraus leitete er ab, warum die verschiedenen Zahntypen so entwickelt und angeordnet sind, welche Aufgaben sie erfüllen und welchen Belastungen sie ausgesetzt sind.

Vermittlung anatomischen Wissens

Auch wenn da Vincis anatomische Studien nicht publiziert wurden, hatten sie in der Folge beträchtlichen Einfluss auf Künstler und Forscher, wie Schuez und Alt hervorheben. Im Bereich der Zahnheilkunde sei er "seiner Zeit weit voraus gewesen", wie etwa die korrekte Beschreibung der Zahn- oder Gebissformel und die Betrachtung der Zähne als organische Strukturen und nicht als totes Material zeige.

Seine vielleicht größte Errungenschaft im medizinischen Bereich sei aber sein Einfluss auf die Einführung von möglichst detaillierten Zeichnungen zur Vermittlung von anatomischem Wissen. Auch in vielen anderen naturwissenschaftlichen Fachbereichen und deren Grundlagen, von der Botanik über die Statik bis hin zur Mathematik, versuchte da Vinci, wichtigen Fragen auf den Grund zu gehen. Letztlich sei ihm aber das Schicksal vieler "Universalgenies" zuteilgeworden, meinen Alt und Schuez. Nämlich, dass sein Vermächtnis so umfassend war, dass die kommenden Generationen mit dem Ausmaß an Information gar nicht umgehen konnten. (red, APA, 14.2.2022)