Konventionell lassen sich Kissins Interpretationen niemals nennen.

Foto: Redferns / Amy T. Zielinski

Wien – "Kissin bleibt ein Rätsel", schrieb die Frankfurter Allgemeine vergangenen Festspielsommer aus Salzburg. Dieser Satz stimmt in mehrfacher Hinsicht. Unergründlich in der Gestik und Mimik, frappiert seine wunderkindartige (und auch immer etwas artig wirkende) technische Brillanz jedes Mal aufs Neue. Konventionell lassen sich seine Interpretationen niemals nennen, über ihren Sinn kann man manchmal grübeln.

Jewgenij Kissin spielt Chopin – dieses Mal im Wiener Musikverein: eine Auswahl von sieben Mazurken sowie das Andante spianato et Grande Polonaise Es-Dur – auch in seinem 51. Jahr gewissermaßen wie ein junger "Gott": mit kindlicher Selbstverständlichkeit, als sei die schwierigste Kaskade nichts als ein Spiel. Hochkonzentriert, kantabel, mit teils ruppigem Zugriff und fulminanten Steigerungseffekten wird dieser Stil ausgestattet. Großer Jubel, Standing Ovations, vier Zugaben (Bach/Busoni, Mozart, zweimal Chopin). Die vorangegangene Programmhälfte allerdings warf Fragen auf: Eine – sagen wir – seltsame Bearbeitung von Bachs Toccata und Fuge d-Moll von Carl Tausig mit geradezu grotesk arrangierter Ornamentik gab er mit orgelhafter, tumultuöser Verve, Mozarts Adagio h-Moll wirkte hochgespannt, doch etwas einförmig und träge.

Kunstwerk Beethoven

Dann Beethovens Sonate As-Dur op. 110: Sie enthielt schöne Stellen, jedoch wirkte sie wie eine täuschend echt, allerdings eben doch nur vorgetäuschte Fremdsprache: buchstabierend vorgetragen, träge und schwer im Tempo, unartikuliert. Oder wie es eine Konzertbesucherin kurz ausdrückte: "Er spielt grandios, aber mit wenig Gefühl und ein bisschen hart."

Ein Kunstwerk, so meinte Theodor W. Adorno, der übrigens sehr mit seinem eigenen Beethoven-Projekt haderte, sei ein Rätsel, das sich selbst die Lösung gibt. In diesem Fall blieb die Lösung aus. (Daniel Ender, 18.2.2022)