Der ukrainische Präsident Selenskyi wies russische Berichte über ukrainische Angriffe auf russisches Territorium zurück.

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Menschen fliehen aus dem Donbass.

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Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte am Samstag Bilder, die den Start einer "Yars"-Interkontinentalrakete zeigen.

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Die Separatisten in den Gebieten Donezk und Luhansk kündigten am Samstag eine allgemeine Mobilmachung an.

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Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko beobachten das Manöver.

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Kiew/Moskau/München – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu mehr internationaler Unterstützung für sein Land aufgerufen. "Wir werden unser Land schützen, mit oder ohne Unterstützung unserer Partner", sagte Selenskyi am Samstag laut der offiziellen Übersetzung des Treffens. Er beklagte, dass die internationale Sicherheitsarchitektur brüchig geworden sei und Regeln nicht mehr funktionierten.

Selenskyi warnte davor, die Fehler des 20. Jahrhunderts komplett zu vergessen. "Wir werden unser Land verteidigen", sagte er laut Übersetzung. Aber: "Wir möchten eine diplomatische Lösung statt eines militärischen Konflikts."

Selenskyi dementierte, dass es aus der Ukraine heraus einen Beschuss auf russisches Territorium gegeben hat. "Das ist eine Lüge", sagt er zu entsprechenden Berichten. "Wir werden nicht auf Provokationen reagieren", kündigt er zugleich an. Das Risiko eines Krieges sei groß, aber man werde nicht panisch werden.

Zuvor gab der ukrainische Außenminister Dmytro Kubela an, dass sein Land "auf jedes mögliche Szenario" vorbereitet sei. Auch Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock unterstrich, dass die westlichen Staaten für alle Angriffsszenarien auf die Ukraine Sanktionspakete vorbereitet hätten. Man habe sich darauf verständigt, was die Auslösepunkte für Sanktionen seien und welche dann verhängt würden, sagte Baerbock am Samstag nach einem G7-Außenministertreffen. "Machen Sie diesen fatalen Fehler nicht, ziehen Sie Ihre Truppen ab, wenden Sie Schaden von der Ukraine und von Russland ab und lassen Sie uns reden", sagte sie an die Adresse der Regierung in Moskau gerichtet. Noch sei "die Geschichte nicht geschrieben". Noch gebe es einen einfachen Ausweg, den die russische Regierung jederzeit beschließen könne.

Militärübung gestartet

Unterdessen hat am Samstag unter dem persönlichen Kommando von Präsident Wladimir Putin in Russland das Militärmanöver "Grom" (Donner) der strategischen Atomstreitkräfte begonnen. Im Verlauf der Übung werden ballistische Raketen und Marschflugkörper abgeschossen, teilte Kremlsprecher Dmitri Peskow mit.

Neben den Atomstreitkräften sind auch Nord- und Schwarzmeerflotte, Teile des Wehrkreises Süd sowie die russische Luftwaffe an den Manövern beteiligt. Fluglinien wurden im Vorfeld gewarnt, die Manövergebiete – in der Barentssee, vor der Pazifikinsel Kamtschatka und im Schwarzen Meer – bis Dienstag nächster Woche zu meiden. Putin verfolgt die Raketenabschüsse in seinem Lagezentrum im Kreml. Eine Erklärung des Präsidenten nach Abschluss des Manövers sei aber nicht geplant, teilte Peskow mit.

Die Militärübung ist eine klare Machtdemonstration Moskaus, die umso härter wirkt, als sie gleichzeitig mit der massiven Verschärfung der Lage im Donbass zusammenfällt. Dort haben die Separatistenrepubliken in Donezk (DVR) und Luhansk (LVR) nach der Evakuierung der Zivilbevölkerung am Freitag nun auch die "Generalmobilisierung" erklärt und die ukrainische Führung massiver Verletzungen der Feuerpause beschuldigt.

Am Samstag gab Moskau außerdem bekannt, dass eine Untersuchung eingeleitet wurde über Medienberichte, wonach eine ukrainische Granate auf russischem Territorium gelandet sei. Sie soll in der südrussischen Provinz Rostow, rund einen Kilometer von der Grenze explodiert sein.

Zwei Soldaten getötet

Der Konflikt in der Ostukraine spitzt sich zu. Am Samstag setzten die Regierungsarmee und die von Russland unterstützten Separatisten im Osten des Landes die Kämpfe fort. Nach Angaben der Armee in Kiew wurden zwei Soldaten getötet, vier weitere wurden verletzt.

Die Aufständischen in dem Gebiet Donezk sprachen von einem verletzten Zivilisten. Bis zum Abend habe es etwa fünf Dutzend Verstöße gegeben.

OSZE-Beobachter verzeichneten innerhalb eines Tages mehr als 1500 Verstöße gegen die Waffenruhe in der Ostukraine. Am Freitag gab es in der Region Donezk 591 militärische Zwischenfälle gegeben, in der Nachbarregion Luhansk 975.

Ungereimtheiten bei Videos

Tatsächlich gibt es eine Reihe von Ungereimtheiten in den Handlungen der Separatisten: So wurden die Videos mit dem Aufruf zur Evakuierung bereits am Mittwoch gedreht. Der Chef der DVR Denis Puschilin allerdings spricht in dem Video ausdrücklich von "heute, am 18. Februar". Das verdeutlicht, dass die Eskalation offenbar geplant war.

Zudem wurden zwar inzwischen mehr als 10.000 Menschen mit Bussen in die benachbarte russische Region Rostow verbracht, wo sie in Notunterkünften einquartiert wurden. Dies ist aber nur ein Bruchteil der Bevölkerung. Zugleich tauchten Videos aus Donezk auf, wo in der Nähe der zur Abfahrt bereit stehenden Busse die Menschen weiter auf einem offenen Markt einkaufen – von Kriegsangst ist dort nichts zu spüren.

Blutiger Konflikt seit 2014

Der blutige Konflikt in dem Gebiet im Osten der Ukraine in Nachbarschaft zu Russland dauert seit dem Frühjahr 2014 an. Nach Uno-Schätzungen starben bisher mehr als 14.000 Menschen, die meisten davon auf dem von Separatisten kontrollierten Gebiet. Ein Friedensplan von 2015 unter deutsch-französischer Vermittlung wird nicht umgesetzt.

In den vergangenen Wochen hat er wieder an Dynamik zugenommen. Russlands Präsident Putin hat immer wieder ein Ende der Erweiterung der Nato Richtung Osten gefordert und vor einer Aufnahme der Ukraine in das Bündnis gewarnt. In diesem Fall drohe ein Krieg, sagte er. Doch diese Zugeständnisse schließt das Bündnis aus.

Gespräch Macron und Putin am Sonntag

Inmitten der angespannten Lage wird es aber auch am Wochenende zu Gesprächen kommen. Putin werde am Sonntag mit Frankreichs Präsident Macron telefonieren, bestätigte der russischen Nachrichtenagentur Tass.

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz am Samstag waren neben dem ukrainischen Präsidenten Selenskyi unter anderem US-Vizepräsidentin Kamala Harris, EU-Kommissionchefin Ursula von der Leyen und Nato-Chef Jens Stoltenberg zu Gast. Von der Leyen betonte in ihrer Rede abermals, dass Russland mit massiven Sanktionen rechnen muss, sollte es die Ukraine angreifen. Die Europäische Union ist ihren Angaben zufolge zudem vollständig für den Fall eines Stopps von russischen Gaslieferungen gerüstet.

Harris und Scholz warnen Russland

Harris fand dabei klare Worte: "Die Taten Russlands passen nicht zu ihren Worten." Wenn Russland "weiter in die Ukraine einmarschiert", dann werde das massive Folgen habe. Dazu gehörten "noch nie dagewesene Sanktionen" aber auch eine weitere Aufstockung der Nato-Truppen in Osteuropa. In diesem historischen Moment würde sich die Stärke der Nato zeigen.

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Kamala Harris ist aus den USA nach München angereist. Russland würde Bereitschaft zum Dialog betonen. Die Taten passen dazu aber nicht, sagte sie.
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Stoltenberg betonte, dass es nicht zu spät für Russland sei, seinen Kurs zu ändern und die "Vorbereitungen zum Krieg" zu stoppen. Er lud den russischen Außenminister Sergej Lawrow ein, sich am Donnerstag zu treffen. Für einen ähnlichen Zeitraum steht auch ein Treffen zwischen US-Vertreter Antony Blinken und Lawrow am Plan – wenn es bis dahin nicht zum Einmarsch kommt, wie Blinken zuvor betonte.

"Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Russland einen vollständigen Angriff auf die Ukraine plant", sagte Stoltenberg.

Wie Stoltenberg rief auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz dazu auf, zu differenzieren, zwischen legitimen Sicherheitsinteressen und haltlosen Forderungen. Weder Nato noch EU seien aggressiv, "es gibt keinen Grund zur Angst" für Putin. Die aktuellen Grenzen müssten akzeptiert werden, nur so könne der Frieden in Europa erhalten bleiben. Alle Kanäle der Diplomatie seien offen, aber ohne naiv zu sein, fügte Scholz hinzu. Denn in Europe "droht wieder ein Krieg".

"Harte Bestrafung"

Scholz und der britische Premierminister Boris Johnson erklärten, sollte Russlands Präsident Wladimir Putin einen Einmarsch befehlen, müsse eine harte Bestrafung erfolgen.

Die Souveränität eines Landes müsse eingehalten werden, betonte auch Chinas Außenminister Wang Yi: "Die Ukraine ist keine Ausnahme." Er warnte aber davor, Panik vor einem Krieg zu schüren. Er rief die Konfliktparteien dazu auf, auf Basis des Minsk-Abkommens eine Lösung zu finden.

Österreichische Reisewarnung, Lufthansa stoppt Flüge

Am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz telefonierte Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian mit seinem russischen Amtskollegen Lawrow. Annäherungen habe es aber nach russischer Darstellung keine gegeben. Lawrow poche auf die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien.

Das österreichische Außenministerium hat am Samstag eine Reisewarnung für die Ukraine ausgesprochen. Auch Deutschland wies Staatsbürgerinnen und Staatsbürger an, die Ukraine jetzt zu verlassen. Die Fluglinien des Lufthansa-Konzerns, darunter Austrian Airlines, gaben am Samstag bekannt, ab Montag Flüge nach Kiew und Odessa vorläufig auszusetzen.

Biden erwartet Angriff "in den nächsten Tagen"

Freitagabend hatte sich US-Präsident Joe Biden davon überzeugt gezeigt, dass eine russische Entscheidung zum Einmarsch in der Ukraine gefallen ist. Der US-Präsident geht davon aus, dass Teil der Invasion "in den nächsten Tagen" auch ein Angriff auf die zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählende Hauptstadt Kiew sein werde, sagte er in einer Rede. Seine Sicherheit in dieser Frage gehe aus den Ergebnissen der "beträchtlichen nachrichtendienstlichen Fähigkeiten" der USA hervor. Um den Einsatz zu rechtfertigen, wolle Russland mittels Fake-News einen "falschen Kriegsgrund" aufbauen.

Die USA wiederholen seit Tagen ihre Warnungen vor einem möglichen Angriff. Außenminister Antony Blinken hatte erst am Donnerstagabend gesagt, laut US-Geheimdienstinformationen sei möglicherweise ein gefälschter Bericht über einen Angriff mit chemischen Waffen in den Separatistengebieten geplant.

Russland weist Vorwurf der Cyber-Angriffe zurück

Moskau wies am Samstag außerdem Vorwürfe aus Washington zurück, für Cyber-Angriffe auf ukrainische Banken- und Regierungswebsiten verantwortlich zu sein.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und ihr französischer Amtskollege Jean-Yves Le Drian äußerten sich über die Zunahme der Waffenstillstandsverletzungen besorgt. Die beiden Minister befürchten demnach, dass inszenierte Zwischenfälle als Vorwand für eine mögliche militärische Eskalation missbraucht werden könnten.

Kriegsaufrufe aus Moskau

Derweil kommen aus Moskau erste Kriegsaufrufe. Der Duma-Abgeordnete Alexej Schurawljow rief die Russen dazu auf, sich als Freiwillige zu melden, um im Donbass zu kämpfen. "Heute müssen wir unsere Welt, die russische Welt verteidigen", sagte er.

Die Sprecherin des russischen Außenamts Maria Sacharowa griff derweil rhetorisch den Westen an. Ihren Angaben nach findet im Donbass ein Genozid statt, den der Westen verschweigt. "Habt Ihr bemerkt, wie plötzlich die gesamte westliche Gesellschaft die Menschenrechte vergessen hat?", schrieb sie in sozialen Netzwerken. (André Ballin aus Moskau, red, APA, Reuters, 19.2.2022)