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Die Unsicherheit im Osten der Ukraine ist groß.

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US-Präsident Joe Biden macht Russland für die Spannungen verantwortlich.

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Kiew/Moskau/Berlin – Im Konfliktgebiet in der Ostukraine ist es auch am Sonntag zu neuen Angriffen gekommen. Die Aufständischen in den Gebieten Luhansk und Donezk teilten in der Früh mit, seit Mitternacht seien mehrfach Dörfer beschossen worden. Sonntagvormittag waren mehrere Explosionen in Donezk zu hören. Die Bewohner werden über einen Lautsprecher zur Vorsicht aufgerufen. Auch die ukrainische Armee listete in der Früh mehrere Verstöße gegen den geltenden Waffenstillstand auf.

Kremlchef Wladimir Putin und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben nach Angaben Frankreichs bei einem Telefonat am Sonntag sofortige Schritte zur Erreichung einer Waffenruhe in der Ost-Ukraine vereinbart. Laut Kreml wurde vereinbart, "die Wiederherstellung des Waffenstillstands zu erleichtern und Fortschritte bei der Lösung des Konflikts zu gewährleisten". Am Montag sollen Russland, die Ukraine und Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu Gesprächen zusammentreten.

Der Kreml betonte seinerseits, dass Putin in dem Gespräch "Provokationen" durch die ukrainische Armee für die "Eskalation" im Osten der Ukraine verantwortlich gemacht habe. Durch die Lieferungen moderner Waffen und Munition an die ukrainischen Streitkräfte aus dem Westen werde "Kiew in Richtung einer militärischen Lösung" in dem seit 2014 andauernden Konflikt mit den pro-russischen Separatisten in der Ostukraine gedrängt. Nach Angaben des Élysée-Palasts waren sich Macron und Putin einig, einer diplomatischen Lösung den Vorzug zu geben. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian werde "in den kommenden Tagen" seinen russischen Kollegen Sergej Lawrow treffen. Für Montag ist ein Telefonat angesetzt.

Zuvor hatte bereits der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen sofortigen Waffenstillstand in der Ost-Ukraine verlangt. Im Gespräch mit Macron sicherte demnach Selenskyj zu, nicht auf Provokationen moskautreuer Separatisten in der Ostukraine zu reagieren.

Russland spricht von "maximal belasteter" Lage

Das russische Präsidialamt nennt die Lage an der sogenannten Kontaktlinie im Osten der Ukraine "maximal belastet". Jegliche kleinere Provokation könne zu irreparablen Konsequenzen führen, wird Kreml-Sprecher Dmitri Peskow von der Nachrichtenagentur Interfax zitiert. Die ständigen Warnungen des Westens an Russland vor einer Invasion in die Ukraine seien eine Provokation und könnten gegenteilige Konsequenzen haben.

Unterdessen wollen Russland und Belarus ihr gemeinsames Manöver fortsetzen. Das kündigt das belarussische Verteidigungsminister an. Die Militärübungen sollten eigentlich am Sonntag enden. Begründet wurde die Verlängerung mit zunehmenden militärischen Aktivitäten an den Grenzen zu Belarus und Russland und mit der Eskalation der Lage in der Ost-Ukraine. Nach Nato-Schätzungen befinden sich derzeit rund 30.000 russische Soldaten auf belarussischem Gebiet.

Auf ukrainischem Boden soll es zudem erneut zu Opfern gekommen sein. Die jeweiligen Angaben ließen sich aber nicht unabhängig überprüfen. Bei dem Beschuss eines Dorfes im Konfliktgebiet sind nach Angaben der von Russland unterstützten Separatisten zwei Zivilisten getötet worden. Der Zwischenfall habe sich in Pionorskoje im Gebiet Luhansk ereignet, sagte ein Sprecher am Sonntag der russischen Nachrichtenagentur Interfax. Die Leichen sollten demnach zu Mittag aus den Trümmern geborgen werden. Die Separatisten beschuldigten die ukrainische Armee, für den Angriff verantwortlich zu sein. Fünf Wohnhäuser seien zerstört worden.

Hunderte Verstöße

Das Militär hatte bereits am Samstag von zwei getöteten Soldaten gesprochen. Nach Einschätzung internationaler Beobachter steigt die Zahl der Verletzungen des Waffenstillstands massiv. In der Region Luhansk seien 975 Verstöße festgestellt worden, darunter 860 Explosionen, hieß es in einer Mitteilung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Nacht auf Sonntag. Für die Region Donezk wurden 591 Verstöße gemeldet, darunter 535 Explosionen. Diese Zahlen bezogen sich auf die Lage am Freitag.

Das ukrainische Militär hat nach eigenen Angaben von Sonntag früh den Betrieb an einem der sieben Kontrollpunkte vorläufig eingestellt, über die man in Rebellengebiete im östlichen Donbass gelangt. Grund sei schwerer Beschuss. Die Sicherheit der zivilen Bevölkerung könne nicht garantiert werden. So lange "die Phase der Bedrohung" anhalte, bleibe der Betrieb an dem Kontrollposten ausgesetzt. Vertreter der prorussischen Separatisten warfen wiederum der Ukraine in sozialen Medien vor, von ihnen kontrollierte Gebiete zu beschießen.

Österreich schickt aufgrund der sich dramatisch eskalierenden Lage ein Krisenteam in das Land. Die Gruppe bestehe aus sieben erfahrenen Mitarbeitern des Außen-, Innen-und Verteidigungsministeriums, wie es am Sonntag in einer Aussendung des Bundeskanzleramts hieß. Das Team, dem auch Spezialisten des Einsatzkommandos Cobra angehören, war Sonntag früh bereits am Weg nach Kiew.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) beklagte, dass durch Beschuss in den vergangenen Tagen mindestens zwei Pumpstationen im Gebiet Donezk ausgefallen seien. Diese versorgten mehr als eine Million Menschen mit Trinkwasser. "Wir sind sehr besorgt über die Entwicklungen in der Ostukraine", sagte Florence Gillette, Leiterin der IKRK-Delegation in der Ukraine.

USA warnen

US-Außenminister Antony Blinken betonte Sonntagfrüh (Ortszeit) in einem CNN-Interview, dass er so lange wie möglich auf Diplomatie setzen wolle. "Alles, was wir sehen, deutet darauf hin, dass es todernst ist, dass wir am Rande einer Invasion stehen", warnte er. Ein Treffen mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow in der kommenden Woche in Europa sei weiterhin geplant, "es sei denn, Russland marschiert in der Zwischenzeit ein", betonte der US-Minister. Auch US-Präsident Joe Biden sei "jederzeit" zu einem Gespräch mit Putin egal in welchem Format bereit, "wenn das einen Krieg verhindern" könne.

Mit Blick auf die Lage im Konfliktgebiet im Osten der Ukraine sagte Blinken: "Alles, was auf die eigentliche Invasion hinführt, scheint sich zu vollziehen: Alle diese Operationen unter falscher Flagge, alle diese Provokationen, um Rechtfertigungen zu schaffen." Dies sei einstudiert und genau das, wovor die US-Regierung gewarnt habe. Blinken kritisierte außerdem die Entscheidung, dass russische Truppen vorerst doch in Belarus bleiben sollen, um gemeinsame Militärübungen fortzusetzen.

Die Sicherheitsberater von Biden gingen weiterhin davon aus, dass "Russland jederzeit einen Angriff auf die Ukraine" starten könnte, teilte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Samstagabend mit. Für Sonntag sei eine Sitzung des US-Präsidenten mit dem Nationalen Sicherheitsrat angesetzt.

"Größter Krieg in Europa seit 1945"

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson sagte, Russland plane den größten Krieg in Europa seit 1945. "Alles deutet darauf hin, dass der Plan in gewisser Weise schon begonnen hat", sagte Johnson am Rande der Sicherheitskonferenz in München. Er stellte zudem weitreichende Wirtschaftssanktionen in den Raum: Russischen Firmen könnte der Handel mit britischen Pfund und US-Dollar untersagt werden.

Russland hat nach westlichen Angaben etwa 150.000 Soldaten an der Grenze zum Nachbarland Ukraine zusammengezogen, streitet aber Angriffspläne ab. Die Lage verschärft sich vor allem an der Frontlinie zwischen der ukrainischen Armee und den von Moskau unterstützten Separatisten, die schon seit Jahren den Osten des Landes kontrollieren.

40.000 Menschen seien aus der Ostukraine bisher nach Russland geflohen, sagte Zivilschutzminister Alexander Tschuprijan. Sie sind demnach in 92 Notunterkünften untergebracht worden.

Nato erwartet umfassende Attacke

Die Nato erwartet eine umfassende Attacke der russischen Armee auf das Nachbarland Ukraine. "Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Russland einen vollständigen Angriff auf die Ukraine plant", sagte der Generalsekretär der Militärallianz, Jens Stoltenberg, am Samstagabend in den ARD-"Tagesthemen". Der Norweger, zurzeit Gast der Münchner Sicherheitskonferenz, sprach von einem fortgesetzten militärischen Aufmarsch. "Es werden keine Truppen zurückgezogen, wie Russland das angibt, sondern es kommen neue Truppen hinzu." Es gebe außerdem Anzeichen, dass Russland sich darauf vorbereite, einen Vorwand für einen Angriff zu schaffen.

Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht begrüßte die Entscheidung der Nato, die Bereitschaftszeiten für mehrere Zehntausend Soldaten der Militärallianz drastisch zu verkürzen. Russland habe inzwischen alle Vorbereitungen getroffen, um sein Nachbarland Ukraine angreifen zu können, sagte die SPD-Politikerin am Samstagabend im ZDF-"heute journal" mit Blick auf den massiven Truppenaufmarsch nahe der Grenze. "Wir sind gut beraten, vorbereitet zu sein." Auf die Frage, ob denn auch ein russischer Angriff auf Nato-Mitglieder, etwa die baltischen Staaten oder Polen, zu befürchten sei, sagte die Ministerin: "Die Bedrohung ist sehr groß in dieser Region." Und die Nato-Verbündeten hätten ein Anrecht, "entsprechend gesichert zu sein".

Caritas befürchten humanitäre Katastrophe

Die Caritas befürchtet im Falle einer militärischen Eskalation jedenfalls eine humanitäre Katastrophe und Massenflucht. "Sollte es zu keiner Einigung kommen, müssen wir damit rechnen, dass Millionen von Ukrainern aus ihren Häusern fliehen und entweder innerhalb des Landes oder in Nachbarländern Zuflucht suchen", sagt Caritas-Präsident Michael Landau. "Das würde eine humanitäre Katastrophe bedeuten, wie sie Europa seit vielen Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat." (red, APA, 20.2.2022)