Sasha Filipenko nimmt das System der Gewalt und der Unterdrückung unter die literarische Lupe.

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Putin verstehe nur die Sprache des Stärkeren, schrieb Sasha Filipenko kürzlich in einem Beitrag für die FAZ – was der russische Präsident am vergangenen Montag in einer wohl der aggressivsten Reden eines europäischen Staatschefs nach Ende des Zweiten Weltkriegs nochmals verdeutlichte, als er die Ukraine quasi in der Luft zerriss und dem Westen drohte.

Europäische Politiker hätten, so der belarussische Schriftsteller weiter in seinem Beitrag, keine Ahnung, was in Russland wirklich vor sich geht, oder sie seien bereit, die Augen davor zu verschließen. In der Hoffnung, sich selbst in Sicherheit zu bringen, sind sie bereit, die Annexion der Krim zu akzeptieren und, wenn es sein muss, die Ukraine ganz aufzugeben.

Auf den Leim gehen

Man könnte meinen, Filipenko habe seinen neuen Roman Die Jagd (Diogenes) für all diejenigen geschrieben, die dem russischen Präsidenten und seinem System des Stärkeren so unbedacht und fahrlässig auf den Leim gehen. Um Putin selbst geht es in der aufwühlenden und verstörenden Geschichte, die bereits 2016 auf Russisch erschienen ist und für den russischen Booker-Preis nominiert wurde, allerdings nicht.

Nur der Name einer der Hauptfiguren, der Oligarch Wladimir Slawin – von seinen willigen Helfern Onkel Wolodja genannt –, erinnert daran, welch ruheloser Geist dieses autoritäre System der Niedertracht geschaffen hat. Es ist dieses System der Gewalt und der Unterdrückung, das Filipenko unter die literarische Lupe nimmt und mit sprachlicher und kompositorischer Verve gekonnt seziert.

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Sasha Filipenko seziert in seinem Roman das System des Stärkeren, wie es auch Putin etabliert hat.
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Ein System, das die Lebens- und Denkweisen der Menschen so weit vergiftet hat, sodass sie nur noch von eiskaltem Zynismus angetrieben werden und sich wie wilde Tiere durch die Gesellschaft beißen und sie immer weiter zerfetzen.

Filipenko geht es dabei weniger um den Gehalt von Worten, die den Rausch der Gewalt transportieren und entfachen, sondern eher um das, was man einen Ton nennt, um das, was zwischen Worten und Sätzen als Ausdruck zwischenmenschlicher Kommunikation wabert, was unglaublich mächtig auf unser Interagieren wirkt, was den Zugang zu unserem Inneren und somit eine Umprogrammierung möglich macht und doch so schwer zu fassen ist, um die Wahrheit ans Licht zu zerren. "Die Wahrheit will ja niemand wissen", heißt es in dem Roman, "außer Menschen mit Gewissen, die keine Ahnung haben, wie man lebt. Die Wahrheit bringt nur Kummer. Sascha spürt, dass die Wahrheit immer zu viel ist."

Grundton des Autoritären

So lässt sich die Komposition des Romans erklären, der als eine Art Sonate verfasst ist, also ein musikalisches Stück, das nicht nur eine Geschichte in kurzen und längeren Kapiteln erzählt, anreißt und sozusagen beschwört, um eben dem Grundton des Autoritären und der Niedertracht auf die Schliche zu kommen. Im russischen Original heißt der Roman "travlja", was so viel wie Hetze bedeutet, ein Titel, der der literarischen Idee Filipenkos sicher mehr entspricht als Die Jagd – was eher an einen Actionreißer denken lässt als an eine ernsthafte Auseinandersetzung mit einer Metaidee.

Die Geschichte wird aus der Sicht von zahlreichen Personen, man kann sagen, eingefangen. Gerade in der ersten Hälfte des Romans ist es nicht leicht, dem flirrenden Stimmen- und Handlungsgewirr zu folgen, das Filipenko mit seinem literarischen Taktstock in Bewegung setzt. Dass man Filipenkos wohlgesetzter Sprache wie in einen musikalischen Sog folgen kann, ist das große Verdienst der Übersetzerin Ruth Altenhofer.

Eine der Hauptfiguren ist ein Cellist, der ein Konzert vergeigt hat und der die Geschichte seines älteren Bruders erzählt und begleitet. Der, Lew Smyslow, ist ein bekannter, allerdings skrupelloser Journalist, der auf die schiefe Bahn gerät. Einst in der Schule war er selbst ein Opfer von Mobbing und Gewalt, was ihn anfällig für Angebote der dunklen Seite macht.

Spiel der Entmenschlichung

Er wird zum treibenden Rädchen in einem widerwärtigen Spiel der Entmenschlichung gegen einen anderen Journalisten, gegen Anton Quint, der die korrupten Machenschaften des Oligarchen Slawin enthüllt. "Wir präsentieren Quint als Gerechtigkeitskämpfer, der eigentlich ein Stück Scheiße ist … Wir servierten Quint immer neue Gemeinheiten und Schweinereien. Tag für Tag vermiesten wir ihm das Leben. In seinem Kopf braute sich im Eiltempo eine Paranoia zusammen."

Filipenko, der aus Belarus stammt, in Russland studiert, gearbeitet und gelebt hat und mittlerweile wegen der Repressionen in seiner Heimat gen Westen geflohen ist, staffiert diese abscheuliche Hetze mit einer derartigen Eindringlichkeit und einem soliden Gespür für menschliche Deformationsmöglichkeiten aus, dass einem beim Lesen kalt und heiß wird und einem immer wieder der Atem stockt.

Keine Frage, so was kann nur jemand schreiben, der in solch einem System aufgewachsen und gelebt hat. In diesem Sinne bedeutet Filipenkos Arbeit auch eine persönliche Suche, ein Erforschen der Ursachen und Folgen des postsowjetischen Systems, in dem Gewalt in der Nahrungskette von oben nach unten weitergegeben wird, bis am Ende nur noch eines bleibt: das klaffende, unheilvolle Nichts. (Ingo Petz, ALBUM, 26.2.2022)