STANDARD: Wer ist die rote Frau auf den Fotos?

Delhay: Sie sind der Erste, der das fragt. Das bin ich!

STANDARD: Wie denn das?

Delhay: Es war alles organisiert. Die Wohnungen waren gereinigt, der Fotograf Bertrand Verney war mit seiner ganzen Ausrüstung vor Ort, und plötzlich haben wir gemerkt, dass es unmöglich ist, einen zweigeschoßigen, fünf Meter hohen Raum zu fotografieren, ohne dabei einen Größenbezug herzustellen. Es war sonst niemand da. Also haben wir mich als Maßstab inszeniert.

Wer ist die Frau auf den Bildern. "Ich", sagt Sophie Delhay.
Foto: Bertrand Verney

STANDARD: Die Fotos zeigen das Wohnhaus "32 Logements-Cathédrale" in Dijon. Warum fünf Meter hohe Räume?

Delhay: Jedes Haus, das ich plane, hat seine eigene Religion. Dieses Wohnhaus in Dijon, das wir 2020 fertiggestellt haben, zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Wohnzimmer zum Teil zweigeschoßig ausgeführt haben. Viel Raum, viel Licht, viel Großzügigkeit im Sein und Denken. Wir haben uns getraut, dem Wohnhaus den Namen "Cathédrale" zu geben. Man fühlt sich irgendwie frei.

STANDARD: Sie sprechen von Religion. Wie kann sich diese Religion sonst noch bemerkbar machen?

Delhay: In unserem Projekt "Unité(s)", ebenfalls in Dijon, sind wir von gleich großen Raumquadraten ausgegangen. Jedes Zimmer hat genau 13 Quadratmeter und ist über Schiebetüren mit den anderen Zimmern verbunden oder auch von ihnen getrennt. Wir geben keine Nutzung vor, sondern überlassen den Bewohnern, ob und wie sie die Räume zusammenlegen wollen. In wiederum einem anderen Projekt in Nantes haben wir uns getraut, jeweils ein Zimmer aus dem Wohnungsverband herauszulösen.

STANDARD: Das heißt?

Delhay: Man kann das Zimmer nur erreichen, indem man die Wohnung verlässt und im Garten oder auf der Terrasse ein paar Schritte durch den Außenraum schreitet. Es ist eine Art Exklave.

STANDARD: Wie reagieren die Bewohner darauf?

Delhay: Unsere Auftraggeber bitten uns meistens, zu jedem Projekt eine kleine Broschüre zu erstellen, in der wir in wenigen Worten das Konzept des Wohnprojekts erklären und niederschreiben, was wir uns dabei gedacht haben. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich das so gut finde.

Foto: Bertrand Verney

STANDARD: Warum nicht?

Delhay: Weil jede Erklärung die Fantasie wegnimmt, weil jede Regulierung etwas kaputtmacht. Uns Architektinnen wird immer nachgesagt, wir hätten ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. Nun, ich glaube auch an die Vorstellungskraft meiner Bewohnerinnen und Bewohner. Wir dürfen die Fantasie der Menschen nicht unterschätzen!

STANDARD: Sind Ihre Wohnkonzepte eine Herausforderung?

Delhay: Für manche wahrscheinlich schon. Für andere sind sie eine Anregung oder sogar eine Fantasiemaschine. In der Regel, wenn nicht gerade Covid ist, besuche ich nach circa zwei Jahren ein Projekt und frage die Bewohner, ob ich mir ihre Wohnungen anschauen darf. Und manchmal bin ich ganz schön überrascht.

STANDARD: Bitte ein Beispiel.

Delhay: In dem Projekt in Nantes, wo ein Zimmer der Wohnung nur über den Garten zu erreichen war, habe ich einen Mann getroffen, der diesen Extraraum als Wohnzimmer nutzt. Ich war ganz perplex. Und dann hat er mir erklärt, dass er seine Tochter nach der Scheidung nur selten sieht – doch wenn er sie bei sich hat, dann wohnen sie hier draußen, wo sie stundenlang spielen, reden und gemeinsame Momente teilen. Ist das nicht schön?

STANDARD: Was machen Sie, wenn ein Mieter mit Ihrer Wohnung überhaupt nichts anfangen kann?

Delhay: Im geförderten Wohnbau in Frankreich bekommt jeder Interessent genau drei Wohnungen präsentiert, aus denen er auswählen kann. Wer mit so einem Konzept nicht zurande kommt, kann auf zwei andere Wohnungen ausweichen. Die Vielfalt der Wohnkonzepte ist kein Problem, sondern eine Bereicherung.

STANDARD: Die meisten Ihrer Wohnprojekte sind sehr rough, haben Sichtbeton an den Wänden oder Metallgitter an der Fassade. Wieso denn das?

Delhay: Jede Entscheidung verändert das gesamte System. Wenn ich mich entscheide, hohe Räume zu machen, Schiebetüren einzubauen oder getrennte Wohnbereiche zu schaffen, dann kostet das Geld, dann muss ich das Geld an anderer Stelle wieder einsparen. Im Wohnhaus "32 Logements-Cathédrale" mussten wir auf teure Böden und ausgemalte Wände verzichten, sonst wären wir mit dem Budget nicht ausgekommen. Es sind kommunizierende Gefäße.

STANDARD: Müssen Sie sich nicht an gewisse Mindeststandards im sozialen Wohnbau halten?

Delhay: Doch, und diese Mindeststandards definieren die Zimmergrößen, die Fußbodenoberflächen, weiß ausgemalte Wände und vieles mehr. Ich halte mich nicht daran. Aber ich halte mich daran, dass wir pro Quadratmeter Nutzfläche nur ein gewisses Budget verbauen dürfen. Wir verbauen es halt anders.

STANDARD: Das geht?

Delhay: Früher war ich jung und gutgläubig. Ich war eine "tête brûlée", ein brennender Kopf, eine Art kompromissloser Geist. Und irgendwie hatte ich immer Glück, denn die Bauträger haben das Konzept verstanden – und erkannt, was sie an Mehrwert bekommen, wenn sie woanders auf gewisse Qualitäten verzichten. Heute ist das anders. Die Unternehmen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie mich zu einem Bauträgerwettbewerb einladen.

Foto: Sydney Caron

STANDARD: Gewinnen Sie oft?

Delhay: Nein, die meisten Wettbewerbe verlieren wir. Aber wenn wir gewinnen, dann mit großer Euphorie unter allen Beteiligten.

STANDARD: Manchmal werden Sie als experimentell bezeichnet. Stimmen Sie dem zu?

Delhay: Nein. Ein Experiment hat immer mit Risiko und Laborversuch zu tun. Ich aber bemühe mich lediglich, ein architektonisches Vokabular für das zu finden, was schon längst da ist – und zwar für eine Gesellschaft, die sich verändert hat, die nach Freiheit und Offenheit verlangt, die nicht mehr in ein paar wenige Standards zu pressen ist. Unsere Wohnkultur braucht dringend eine neue Architektursprache.

STANDARD: Nächste Woche halten Sie einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On. Worüber werden Sie sprechen?

Delhay: Über Freiheit – und dar über, dass es als Architekten, als Architektinnen unsere Aufgabe ist, diese Freiheit zu befreien. (Wojciech Czaja, 27.02.2022)