1952 in Istanbul geboren, ist Orhan Pamuk heute der weltweit meistgelesene türkische Autor. Den Literaturnobelpreis hat er obendrein seit 2006.

Foto: Hakan Ezilmez

Orhan Pamuk mag seine Romanfiguren sehr, das merkt man. Er zeichnet sie detailreich und liebevoll, man würde allen davon im echten Leben gerne einmal begegnen: dem hochfähigen Bonkowski Pascha, seines Zeichens Generalinspektor für das Gesundheitswesen des Osmanischen Reichs, ebenso wie der schönen und bei der Wahl ihres Ehemannes eigenwilligen jungen Frau Zeynep. Bei aller Liebe hängt Pamuk als guter Autor aber nicht über Gebühr an ihnen. Man muss loslassen können. In seinem neuen Roman lässt er deshalb eine Hauptfigur nach der anderen sterben. Nur zwei von ihnen sind nach 700 Seiten noch am Leben. Es ist schließlich die Pest ausgebrochen auf Minger. Der Geruch von Desinfektionsmittel mischt sich mit dem Duft von Rosen und Thymian.

Minger ist eine kleine Insel im Mittelmeer, und wir schreiben in Pamuks neuem Roman Die Nächste der Pest das Jahr 1901. Ebenso weit von der Türkei wie Griechenland entfernt, was sich auch in religiös diverser Bevölkerung mit entsprechenden ethnischen Konflikten niederschlägt, ist Minger als Schauplatz zwar fiktiv, die Pest dort aber historisch begründet. 1894 in Hongkong ausgebrochen, hatte sie sich über Seefahrer in die ganze Welt verbreitet, auch in den Mittelmeerraum.

Zweischneidiges Schwert

Pamuk hatte 2016 mit der Arbeit an dem Roman begonnen und schon lange über die Pest schreiben wollen, erklärt er seit dessen Erscheinen fast rechtfertigend. Er konnte nicht absehen, dass sein Buch mitten in einer weltweiten Pandemie fertig würde. Das erweist sich bei der Lektüre als zweischneidiges Schwert.

Einerseits ist es verblüffend, wie treffend Pamuk angesichts der Pest politische Dynamiken und gesellschaftliche Probleme entfaltet und beschreibt, die wir alle während Corona am eigenen Leib erlebt haben. Auch um die Quarantänedisziplin scheint es heute kaum besser bestellt als damals, als die Epidemiologie noch in den Kinderschuhen steckte.

Weil Leser 2022 pandemische Verhältnisse inzwischen jedoch aus erster Hand zur Genüge kennen (Ausgangssperren werden verhängt, Schadenersatz wird ausgezahlt, Wohlhabende fliehen), gerät das zunehmend langatmig. Kann ein Buch zur falschen Zeit erscheinen? Vielleicht. Der Verdacht liegt aber nahe, dass diese Passagen auch ohne Corona länglich wären, sie fallen doch sehr repetitiv aus.

Reizende Details

Das verwundert, weil es eigentlich unnötig ist: Die Nächte der Pest quillt über vor reizenden Details. Pamuk webt mit ihrer Hilfe etwa seine kleine Insel in die große Weltgeschichte ein. Verblüffend glaubhaft scheint ihre Existenz, wenn schon Homer von Minger erzählt habe, sogar wissenschaftliche Abhandlungen zu dem Eiland lassen sich aufzählen. Man lernt aber auch die Tücken der Thronfolgeregelung kennen und die geschichtlich verbürgte Leidenschaft des Sultans Abdülhamit für Sherlock Holmes. Europäische Kulturimporte finden sich auch in der Mode und den Schaufenstern der Apotheken. Über eine Sultanstochter heißt es quasi im Vorbeigehen effektvoll, "sie war beim Spielen mit Streichhölzern verbrannt, die soeben erst erfunden worden waren". Praktisch jede Figur umspielen kleine Geschichten, die Pamuk aber nie unnötig auswalzt. Er streut sie bloß ein, öffnet damit Fenster in weitere Räume. Das macht den Roman ungeheuer reich.

So feingliedrig ist er bis in seine Rahmung: Dass wir von all dem lesen können, verdanken wir den Briefen der Sultansnichte Pakize Sultan, die auf Geheiß die Hochzeitsreise mit ihrem geliebten Gatten, dem Quarantänearzt Doktor Nuri, unterbrechen muss, damit er auf Minger seinen Dienst tun kann. Nicht sie erzählt jedoch, sondern ihre Ururenkelin, eine Historikerin. Das trägt dazu bei, dass ab der Hälfte ein politischer Handlungsstrang Fahrt aufnimmt. Schuld ist der junge Major Kâmil, der revolutionäre Gedanken nach französischem Vorbild hegt und im größten Trubel die Unabhängigkeit der Insel ausruft.

Anklage eines Kritikers

In der Türkei hat der fortan als Staatsgründer verehrte Kâmil seinem Autor nach Erscheinen von Die Nächte der Pest Ärger eingebracht. Infolge einer Anzeige beauftragte ein Istanbuler Gericht letzten November die Staatsanwaltschaft, eine Anklage zwecks "Beleidigung Atatürks und der türkischen Fahne" gegen Pamuk auszuarbeiten. Deren Ausgang ist noch offen. Pamuk weist den Vorwurf, den Republiksgründer Kemal Atatürk verhöhnt zu haben, jedenfalls von sich. Es ist nicht das erste Mal, dass der Literaturnobelpreisträger mit der Politik in Konflikt gerät. Als die Hagia Sophia von Präsident Erdoğan vom Museum in eine Moschee rückgewidmet wurde, äußerte er sich kritisch. Und 2005 war Pamuk nach einer Aussage zum Genozid an den Armeniern schon einmal wegen Beleidigung des Türkentums vor Gericht gestanden.

Ja, Kâmil wird bald nach der Revolution Anwandlungen von Größenwahn und Korruption an den Tag legen, und die Verehrung nach seinem bald folgenden Tod grenzt ans Lächerliche. Viel mehr stören dürften die gegenwärtigen türkischen Machthaber aber viele Missstände des mingerischen Politsystems von einer eingeschränkten Pressefreiheit über Spitzelei bis zu einem überbordenden politisch instrumentalisierten Nationalismus, die als Kritik an jedweder autokratischen Führung bei Lesern Pamuks auf fruchtbaren Boden fallen müssen und Vergleiche aufdrängen.

Doch verliert Pamuk nie die literarische Distanz. Geschickt verzahnt er in Die Nächte der Pest einen Pestroman mit einem Politkrimi und gleich mehreren Liebesgeschichten. Wohl etwas lang, aber sehr elegant erzählt. (Michael Wurmitzer, 3.3.2022)