Die Milchstraße und ihre Sternströme (hier als farbige Punktestreifen dargestellt), Kugelsternhaufen (Sternsymbole) und Zwerggalaxien (kleine Würfel).
Illustr.: S. Payne-Wardenaar / K. Malhan, MPIA

Obwohl wir gleichsam von innen heraus auf unsere Heimatgalaxie blicken, haben wir inzwischen eine halbwegs gute Vorstellung davon, wie die Milchstraße aussieht. Von außen gesehen gleicht sie den vielen anderen Balkenspiralgalaxien im beobachtbaren Kosmos: ein Wirbel aus hunderten Milliarden Sternen mit einem mehr oder weniger deutlichen Balken in der Mitte. Was auf den ersten Blick recht ordentlich aussieht, erweist sich für das kundige Auge bei näherer Betrachtung als Hinweis darauf, dass die Milchstraße in Wahrheit eine gefräßige Kannibalin mit schlechten Tischmanieren ist.

Uralte Halosterne

Die ringsum verteilten Überreste vergangener Mahlzeiten finden sich vor allem im Halo unserer Galaxie. Dies ist die sphärische 170.000 Lichtjahre durchmessende Region aus Sternen und Kugelsternhaufen, die die gesamte galaktische Scheibe samt umliegenden Zonen umgibt. Nach allem, was man bisher weiß, finden sich in diesem Halo die ältesten Sterne unserer Galaxie.

Wie ein Archiv vergangener Ereignisse lassen sich aus ihm die Wechselwirkungen unserer Heimatgalaxie mit ihrer Umgebung rekonstruieren – und die waren fallweise durchaus fatal für die kleineren Galaxien der Nachbarschaft, wie ein Team um Khyati Malhan vom Max-Planck-Institut für Astronomie nachgezeichnet hat.

Zerrissen und verschlungen

Ab und zu kommt eine kleine Galaxie unserer Milchstraße mit ihrer enormen Schwerkraft zu nahe. Dann fängt sie unsere Heimatgalaxie ein, reißt sie buchstäblich auseinander und verschlingt sie schließlich. Bei diesem Vorgang wirkt die Gravitationskraft unserer Galaxie stärker auf jene Teile der eingefangenen Zwerggalaxien, die dem Zentrum näher sind. Diese ungleiche Kräfteverteilung zerrt das galaktische Opfer zu einem länglichen Strom von Sternen und Gas auseinander, der im Halo seine Kreise zieht und dabei langsam auseinanderdriftet.

Video: Die Lage von Kugelsternhaufen, Sternströmen und Galaxienverschmelzungen, wie sie aus den Gaia-Daten extrahiert wurden.
Max-Planck-Institut für Astronomie

Belege für dieses kannibalische Benehmen unserer Milchstraße entdeckten die Forschenden bei der statistischen Auswertung von Daten der Esa-Mission Gaia zu 257 Sternströmen, Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien. Der nun im "Astrophysical Journal" veröffentlichte "Verschmelzungsatlas" weist auf insgesamt sechs Mahlzeiten hin, darunter auch auf einen bisher unbekannten Happen, der gleichsam posthum den Namen Pontus erhielt.

Früher Happen

Die schon zuvor bekannten Ströme tragen die Bezeichnungen Sagittarius, Cetus, Gaia-Sausage/Enceladus, LMS-1/Wukong und Arjuna/Sequoia/I'itoi. Die Überreste von Pontus bewegen sich entgegengesetzt zur Rotation der Milchstraßenscheibe, und das bei vergleichsweise geringer Energie. Das könnte darauf hindeuten, dass die Verschmelzung mit Pontus schon sehr lange her ist.

Insgesamt liefert die neue Analyse aber noch keine Rekonstruktion der kosmischen Ereigniskette – sagt also wenig darüber aus, in welcher Reihenfolge die Verschmelzungen stattfanden. Um dieses Rätsel zu lösen, wollen die Forscherinnen und Forscher künftig die Vergangenheit der Milchstraße im Computer simulieren und jenes Modell herausarbeiten, das am besten zu den den verfügbaren Daten passt. (tberg, red, 3.3.2022)