"Die Rollen, die uns ohne Not im Denken und Handeln beschränken, sind nicht dienlich, gleichzeitig befeuert das Überwindenwollen der Mädchenrollen auch den weiblichen Selbsthass." Teresa Präauer

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Wie kam es zu diesem zauberhaften Setting in Ihrem neuesten Buch, dass da eine Frau, von einem kleinen Buben gefesselt, auf dem Kinderzimmerboden liegt und sich Gedanken über das Mädchensein macht?

Teresa Präauer: Einerseits aus meinem Alltag: Freunde, Bekannte, auch meine Schwester haben Kinder, denen man beim Aufwachsen zusieht und mit denen man ein wenig mitlebt. Man reflektiert die eigene Kindheit noch einmal aus einem anderen Blickwinkel. Es ist eine kindliche Perspektive, die man einnimmt, die aber mit dem Wissen, das man nun als Erwachsene hat, verbrämt ist. Insofern ist die Erzählstimme im Buch auch eine fiktionalisierte Stimme, die von den Mädchen heute erzählt und sich ans eigene Mädchen-gewesen-Sein erinnert. Der kleine Junge, der immer wieder dazwischengrätscht, ist gewissermaßen ein Gegenbild und eine Grenze zum Mädchen. Letztendlich ist er derjenige, der die Erzählerin zwingt innezuhalten. Es ist ein ironisches Spiel mit dem Gefangensein in der Erinnerung.

STANDARD: Es geht in Ihrem Buch auch ganz stark um diesen Erinnerungsprozess. Wie ist da Ihr Blick auf die eigene Kindheit, auf Sie als Mädchen ausgefallen?

Präauer: Es ging dabei auch um die Frage, wer man in Beziehung zu den anderen gewesen ist. Zu den Familienmitgliedern, der Gruppe, den Gleichaltrigen, innerhalb der Schulklasse. Darum, die eigene Geschichte ernst zu nehmen, Intimität im Erzählen zuzulassen – und gleichzeitig auch immer wieder skeptisch und ironisch Distanz zu gewinnen. Es gibt eine Stelle im Buch, da berichte ich so saftig davon, wie wir die Würmer aus dem Garten in unseren Schürzentaschen mit uns trugen. Und gleich darauf heißt es: Eigentlich hatten wir gar keine Würmer und auch keine Schürzentaschen. Es ist eben Literatur.

STANDARD: Aus dieser Beschäftigung mit "Mädchen" kommend: Wer hat es heute von Anfang an leichter? Buben oder Mädchen? Ich frage das auch, weil sich im Buch immer wieder dieser eine Satz wiederholt: "Wer über das Mädchen nachdenkt, denkt über Anfänge nach."

Präauer: Die Rollen, die uns ohne Not im Denken und Handeln beschränken, sind nicht dienlich, gleichzeitig befeuert das Überwindenwollen der Mädchenrollen auch den weiblichen Selbsthass. Die Ablehnung von Tätigkeiten, die Mädchen kulturell praktizierten, schränkt ihre Möglichkeiten mitunter weiter ein – bis beispielsweise die bildende Kunst die handwerklichen Techniken wie Nähen, Stricken und Häkeln wieder hinterm Ofen hervorholt und zu Guerilla-Techniken aufwertet. Das sind alles bloß Spiele, aber Spiele sind Anfänge. Kindheit ist ein Anfang, die erste Seite eines Buches ist auch ein Anfang.

STANDARD: Wollten Sie selbst je ein Bub sein?

Präauer: Wie viele Mädchen hatte ich eine glückliche Tomboy-Phase, in der manches, weil vor der Pubertät, noch nicht so ausgeprägt war. Und vielleicht war mir da auch egal, ob ich ein Mädchen oder ein Bub bin. Beim Lesen und bei der Lektürewahl spielte es nie eine Rolle. Ich musste als Mädchen auch nicht unbedingt rosa Kleidchen tragen. Aber es gibt auch etwas an diesem rosa Kitsch, das mich bis heute fasziniert und irritiert: Warum diffamiere ich diese Glitzer-, Pony- und Plüschwelt eigentlich? Und was daran ist auf der anderen Seite vielleicht auch subversiv?

STANDARD: Dazu kommt, dass im Moment auch nonbinäre Zugänge zu Geschlechteridentitäten sehr im Fokus sind.

Präauer: Ich versuche dem Ganzen in einer literarischen Erzählung nicht politisch-parolenhaft zu begegnen, sondern in Anekdoten so etwas wie Zwischenräume auszuloten. Mein Text fragt aber auch danach, wo ich eine Zuneigung zum eigenen Mädchensein finden, entwickeln und stärken kann. Ich tue mir da heute mit 43 Jahren leichter und finde es bereichernd, dass es Bücher wie die von Annie Ernaux gibt. Es ist eine Tür aufgegangen und ein Raum entstanden, in dem die Dinge anders beurteilt und gelesen werden. Soziologisch und politisch.

STANDARD: Im Buch wird einiges ausgelotet. Worin liegen denn die Stärken und Schwächen bzw. die Limitierungen bei Mädchen?

Präauer: Das Klischee vom süßen Wendy-Mädchen ist vielleicht ein gutes Beispiel. Ich habe mich über die Bilder in diesen Zeitschriften immer lustig gemacht, und es steckt, nebenbei gesagt, ja auch viel an Verniedlichung in dieser Darstellung der Tier-Mensch-Beziehung. Aber warum wirkt dieses Bild so niedlich? Ein Mädchen auf einem Pferd ist ja durchaus etwas Machtvolles, jemand, der seinen Bewegungsraum erweitert hat. Die Konnotationen sind oft einschränkend und die Beurteilungen sehr hart, die Mädchen sich selbst und anderen zumuten.

STANDARD: Beim Lesen musste ich auch an den Umstand denken, dass Frauen ihren Mädchennamen ja immer noch sehr oft abgeben, so als müssten Mädchen jemand anderer werden, wenn sie heiraten.

Präauer: Die Zuschreibung als Mädchen, das schildere ich auch im Buch, gab es noch lange für die unverheiratete Frau. Für die Magd, für die Frau, die anderen im Haushalt dient. Das hat einerseits mit Benennung zu tun, aber auch mit Recht und mit Rechtsprechung und dringt noch immer tief in unsere Gesellschaft und in unsere Möglichkeiten ein.

STANDARD: Ab wann ist man denn eine Frau?

Präauer: Wenn ich das aus meiner Erfahrung beantworten will, ist das ein Prozess, der länger dauert. Nach der Schule ist es nicht nur einfach zu sagen: Ich bin eine Frau. Aber es erscheint mir zunehmend seltsam, jemanden mit sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahren noch als Mädchen zu bezeichnen. Mädchensein ist eine Rolle, mit der Frauen ein Leben lang spielen und hadern.

STANDARD: Was machen die Mädchen heute im Gegensatz zu früheren Zeiten?

Teresa Präauer, "Mädchen". 16,50 Euro / 78 Seiten. Wallenstein-Verlag, 2022
Cover: Wallstein Verlag

Präauer: Die Möglichkeiten haben sich einerseits erweitert, das Selbstbewusstsein ist gestärkt. Das Bild für das selbstbestimmte Mädchen in meinem Text ist das Mädchen mit dem Skateboard, das sich auf den Weg machen kann, mobil ist. Andererseits gibt es vor allem in den sozialen Medien etwas, das ich als Backlash wahrnehme: eine Reduktion auf das rein Äußerliche und einen enormen Druck, sich den Idealen anzupassen, während man stets auch private und zugleich öffentliche Person ist. In meiner Kolumne in der Literaturzeitschrift Volltext, "Präauer streamt", beschäftige ich mich seit Jahren mit sprachlichen und ästhetischen Phänomenen von Internet und Reality-TV, das selbst wieder so etwas wie einen bizarren Extremfall unserer Gesellschaft darstellt – und insofern aufschlussreich ist. Das Beziehungsanbahnungsgehabe junger Männer und Frauen, nämlich was sich für die einen gehört und für die anderen nicht, ist hier sehr stark ausdifferenziert. Jämmerlich, aber immer wieder auch sehr komisch.

STANDARD: Der Junge, mit dem Sie in "Mädchen" zu tun haben, besitzt ein Buch, das "Hundert Dinge, die ein Junge wissen muss" heißt. Was sind die Dinge, die ein Mädchen wissen muss?

Präauer: Einen einmal eingeschlagenen Weg auch abbrechen zu können. Nicht dem Falschen die Hand zu geben beim Überqueren der Straße. Nein sagen zu lernen – und auf dem Skateboard davonzufahren. Das wären zumindest vier Dinge, die ein Mädchen wissen muss. Und natürlich: den eigenen Interessen zu folgen, sie ernst zu nehmen und hochzuhalten. Als Künstlerin und Schriftstellerin steht das auch immer wieder infrage und auf der Kippe.

STANDARD: Und was wird aus dem kleinen Jungen werden?

Präauer: Ich würde hoffen, dass er einmal dieses oder ähnliche Bücher liest (lacht). (Mia Eidlhuber, ALBUM, 5.3.2022)