Szene aus dem 1984 erschienenen US-Kinofilm "The Day After". Die atomare Bedrohung lag damals als dunkler Schatten über der Popkultur. Zahlreiche Lieder von damals haben heute wieder Saison.

Foto: imago

Noch vor kurzem löste das Bestreben der EU, Atomkraft für eine "grüne" Energiequelle zu erklären, nachhaltige Irritationen aus. Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine, speziell auf Tschernobyl und das Kernkraftwerk in Saporischschja, sowie der Drohung Putins, notfalls auch Nuklearwaffen einzusetzen, ist dieses Thema zwar vom Tisch. Allerdings fühlt man sich aufgrund dieser Bedrohungen in vergangen geglaubte Zeiten zurückversetzt. Wie einst der US-Autor William Faulkner feststellte: "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen."

NENA

Die aktuelle Katastrophe im Osten Europas sehen diverse Internetmedien als "The most online war of all time", beziehungsweise spricht man auch vom "ersten Tiktok-Krieg". Der wird abseits von Fake-News auch mit Memes oder solidarischen Selfies von Influencerinnen in den ukrainischen Landesfarben geführt. Kalmierend und ein Zeichen des Friedens setzend, findet man auch John Lennons Lieder Give Peace a Chance oder Imagine in frischen Interpretationen zwischen Chor und Karaoke. Aufgrund der russischen Zensur und der Heimholung von Berichterstattern aus den Kampfzonen und aus Russland ist zusätzlich eines zu verzeichnen. Twitter und Tiktok müssen im Guten wie im Schlechten als zentrale Quellen vor Ort herhalten.

Menschen, die in den 1980er-Jahren aufgewachsen sind, verspürten schon Ende der Zehnerjahre dieses Jahrhunderts ein gewisses Unbehagen mit US-Präsident Trump und seiner Kraftlackelei gegenüber dem "Rocketman on a suicide mission" in Nordkorea. Wie man anhand zahlreicher Postings im Best-Ager-Medium Facebook feststellen kann, wird man nun gerade noch vehementer zurückgebeamt in die frühen 1980er.

FGTHVEVO

Parallel zur heutigen Situation hatte man mit einer neuen Seuche namens Aids als globaler Bedrohung zu tun. Zusätzlich führte der Protest gegen die "unkontrollierbare" Atomkraft ("Atomkraft? Nein danke"), und damit verbunden der Angst vor einem "Klimawandel" vor allem in Deutschland zu Massendemonstrationen – und zur Konsolidierung der Grünbewegung. Zusätzlich sorgten das atomare Wettrüsten der Großmächte und der Nato-Doppelbeschluss (SS-20-Raketen gegen Pershing II) für die Verschärfung des Kalten Krieges. Angst vor der atomaren Apokalypse machte sich breit, ein "Tanz auf dem Vulkan".

In der Popkultur kannte man die ikonografischen Filme Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben von 1964 aus der ersten Phase des Kalten Kriegs – oder neue postapokalyptische Dystopien wie Mad Max von 1979. 1984 kam neben dem US-Machwerk Die rote Flut, in dem die Russen Washington niederbomben und Teenager im Mittleren Westen die Invasionsarmee besiegen, mit The Day After der erste, damals heftig umstrittene Film in die Kinos, der etwas Neues zeigte.

Die Welt am Abgrund

Man sieht mit heute antiquierten Tricks den Fallout, die Strahlenopfer und das Leiden der Menschen: "Du kannst es nicht hören, du kannst es nicht spüren, du kannst es nicht schmecken. Aber es ist da, überall …" Der 1981 gewählte US-Präsident Ronald Reagan kündigte bei einer Mikrofonprobe scherzhaft die Bombardierung der Sowjetunion als "Reich des Bösen" an. Politisch ging man davon aus, dass "begrenzte Atomschläge" machbar seien, ohne die Welt in den Abgrund zu reißen.

Ultravox

In der Musik tanzte man in jener Zeit zu inflationär veröffentlichten Liedern, die angesichts der globalen Bedrohung des Wettrüstens entstanden, etwa Two Minute Warning von Depeche Mode, Dancing with Tears in My Eyes von Ultravox, Everybody Wants to Rule the World von Tears For Fears oder World Destruction von Time Zone feat. John Lydon.

Nena konnte in dieser uns heute wieder sehr nahen Zeit mit 99 Luftballons punkten. Frankie Goes to Hollywood ballerten Two Tribes (Go to War) in die Hitparaden, Peter Gabriel Games Without Frontiers und Alphaville Forever Young. Sting zärtelte mit Russians, Prince funkte mit Ronnie Talk To Russia. The Sisters of Mercy veröffentlichten den Jahrhundertsong Dominion/Mother Russia. Die deutsche Nicole gewann 1982 mit Ein Bisschen Frieden den Eurovision Song Contest. Die Deutsch-Amerikanische Freundschaft konterte zynisch mit Ein Bisschen Krieg.

Im Jänner 2021 tauchte dann unerwartet ein Video des österreichischen Außenministeriums mit einer Simulation eines Atombombenangriffs auf Wien auf. Was tun angesichts einer derartigen grimmigen Katastrophe? Das war verstörend. Als Babyboomer macht man 40 Jahre danach gerade wieder interessante Zeiten durch. Oder wie The Smiths 1986 in Ask sangen: "Because if it’s not love then it’s the bomb that will bring us together."

(Christian Schachinger, 8.3.2022)