Im damaligen Leningrad geboren, lebt der Autor Vladimir Vertlib seit Jahrzehnten in Österreich.

Foto: Aleksandra Pawloff

Hätte Wladimir Putin nicht vor bald zwei Wochen die Ukraine überfallen, hätte man an Vladimir Vertlibs neuem Roman Zebra im Krieg sicher interessant gefunden, wie er Raketen, die auf eine osteuropäische Stadt am Schwarzen Meer niedergehen, optisch beschreibt als "Sterne, die um die Wette laufen". Die Panik, die sich so in den Menschen einnistet, dass das Läuten des Telefons im Flur sie sich auf den Boden werfen lässt, hätte einen wohl betroffen gemacht. Nebenbei wäre es ein Verdienst Vertlibs gewesen, den Umstand russisch nationalistischer Konflikte literarisch in den Blick zu rücken.

Das alles gilt zwar nach wie vor. Aber die Wirklichkeit hat die Fiktion überholt. Vor dem Hintergrund der Annexion der Krim durch Russland von 2014 und seitheriger Muskelspiele geschrieben, hat Zebra im Krieg eine ganz neue Dringlichkeit gewonnen. Dass Kriegsumstände im Roman nah an den Medienberichten der vergangenen Tage dran sind, verleitet während der Lektüre unweigerlich immer wieder zum Realitätsabgleich. Nicht bloß dann, wenn der von prorussischen Aufständischen angezettelte Krieg von der Bevölkerung nicht so genannt werden darf, sondern "erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen" heißt, klingelt einem Putin in den Ohren.

Tragik und Komik

Vertlib wurde 1966 im damaligen Leningrad geboren, 1971 emigrierte die jüdische Familie, seit 1981 lebt der Autor in Österreich. Die Sowjetunion und ihre Nachwirkungen beschäftigen ihn immer wieder, seine Bücher strotzen dabei aber vor Komik. Eine Hauptfigur zwischen diesen Fronten ist auch Paul. Er hat wie viele andere den Zeitpunkt verpasst, noch aus der Stadt zu fliehen. Als Flugzeugingenieur ist der Mittdreißiger arbeitslos, seit der Flughafen zerbombt wurde. Während seine Frau als Ärztin im Krankenhaus nächtelang Kriegsopfer operiert, erzählt Paul der verschreckten gemeinsamen Tochter Geschichten oder legt er sich im Internet mit Gegnern des Präsidenten an. Dort recht zu haben soll bald aber auch seine Minderwertigkeitskomplexe kompensieren. So gerät er großmäulig dem gegen ausländische Konzerne, "Regenbogenvereine", "Hetzpresse" und "Heimathasser" wetternden Rebellenführer Lupowitsch in die Quere, macht sich vor ihm in die Hose und wird zum Internetgespött.

Zwei karikaturhafte PR-Berater sollen Paul rehabilitieren. Es kommt nicht dazu, stattdessen wird er gemeinsam mit der immer für skandalträchtige Inszenierungen guten Stadttheaterleiterin vom prorussischen Mob im Biomüll "entsorgt".

Alle Politiker korrupt

Diese Szene gelingt Vertlib wunderbar lakonisch. Rührend zeichnet er ein altes jüdisches Ehepaar, das in der Nachbarwohnung und in widerständiger Genügsamkeit den sich verdüsternden Verhältnissen trotzt. Auf der Straße sind die Menschen indes bereit, sich mit jedem Regime über ihnen abzufinden, sei es legitimiert oder nicht, weil am Ende doch alle Politiker korrupt sind.

Gegen Ende der zwischen Tragik und Komik rasant erzählten fast 300 Seiten geht der Wille zum Abstrusen mit Vertlib etwas durch. Er war vielleicht vom Wissen beschwingt, dass seine Geschichte gut ausgehen wird. Eine Eskalation, wie sie gerade in der Ukraine stattfindet, konnte oder wollte sich nicht einmal der Romancier vorstellen. (Michael Wurmitzer, 8.3.2022)