Die misstrauische Gemeinde fragt sich: Ist in den Fluten wieder ein Kind umgekommen? Und wo ist dieser Peter Grimes?

Foto: Hoesl

Bevor er im September als Intendant des Theaters an der Wien beginnt, beschert Starregisseur Stefan Herheim München noch eine Inszenierung von Peter Grimes. Da dies in tragischer Zeit passiert, gab es ein Präludium: Serge Dorny und das Bayerische Staatsorchester lieferten einen klugen Beitrag auf der Suche nach einer angemessenen Solidarisierung mit der ums Überleben kämpfenden Ukraine. Nach einem Statement des Intendanten samt Brecht-Zitat, dem Verweis auf die Uraufführung von Brittens Oper unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs und auf deren Entstehung im Krieg erhoben sich alle nicht zur ukrainischen National-, sondern zur Europahymne, die plötzlich eine Ernsthaftigkeit gewann, die man ihr bislang nicht zugetraut hätte.

Herheim positiv

Auch Corona forderte Reaktionen: Es musste nicht nur Thomas Ebenstein aus dem Stand als Bob Boles einspringen. Durch einen positiven Test mussten Regisseur Herheim und Team von Streaming-Bildschirmen aus ihre Arbeit betrachten. Für Publikumserregung bot die musikalisch glänzende und ästhetisch stimmige Inszenierung aber auch kaum einen Anlass.

Die wilden Zeiten, als Herheims Entführung vor knapp zwanzig Jahren bei den Salzburger Festspielen ob ihres überbordenden Aktionismus noch einen Sturm der Entrüstung auslöste oder manchem Altwagnerianer sein Bayreuther Geschichts-Parsifal zu weit ging, sind vorbei. Bevor er als Chef ans Theater an der Wien wechselt – und nur noch dort inszeniert –, hat der Norweger bei seinem ersten großen Britten zwar immer noch auf den Zauber suggestiver Bilder gesetzt.

Chor als böse Masse

Mehr noch konzentrierte er sich allerdings auf den Schulterschluss von Musik und Szene, was beim chorlastigen wie auch naturklangstarken Peter Grimes natürlich naheliegt. Da wird der Chor zur exemplarischen Masse, die zu sich selbst kommt, indem sie auf den einen zeigt, der anders ist. Vor allem anders. Wessen sie ihn genau verdächtigen, bleibt vage.

Ob an diversen hinterhältigen Gerüchten etwas dran ist, auch. Brittens Biografie als Homosexueller im bigotten England hat dem Komponisten für dererlei Konstellationen den Blick geschärft.

Herheim zieht aber nicht diese Karte, sondern setzt auf das Exemplarische. Er fokussiert sich auf den Mechanismus, mit dem wutbürgerlicher Verdacht zu einer Gewalt wird, die in den Selbstmord treiben kann. Diesen Diskurs verlegt Herheim in einen traumhaft surreal wandelbaren Einheitsraum, den ihm Silke Bauer gebaut hat. Verschiebbare Wände und Decken machen aus dem Ambiente einen Gemeindesaal mit Bühne, einen Schutzraum oder sogar eine Kirche mit Meeresblick. Was für die meisten Halt bietet, ist für den einen, den sie misstrauisch beäugen, ein Albtraum.

Bei Stuart Skelton ist die Figur des Peter Grimes auch ein verletzliches großes Kind, das sich permanent aus der Welt träumt. Der von der Umwelt angeklagte Grimes ist einer, der wohl mitunter selbst über sich entsetzt wäre, wenn er sich von außen sehen würde. Einmal hat er den gleichen Anzug an wie der Junge, der am Ende umkommt.

Tolle Sänger am Werk

Die Distanz, die die surreale Einheitsbühne schafft, bremst freilich szenisch den Sog etwas aus, den die Musik zu entfalten vermag. Der Wagner-gestählte und Grimes-erfahrene Stuart Skelton ist aber der sichere Solistenfels in den Brandungen von Orchesterwogen und wutbürgerlich aufbrausenden Chormassen. An seiner Seite überzeugen Rachel Willis-Sørensen als selbstbewusste Ellen Orford und der eindrucksvolle Iain Paterson. Das Bayerische Staatsorchester und sein Dirigent Edward Gardner waren zudem überzeugende Anwälte eines Meisterwerks. (Joachim Lange, 8.3.2022)