Foto: Michael Ferire

Der Künstlername passt eigentlich gar nicht zu ihm. Und dennoch taucht er in seinem Universum in verschiedenen Versionen auf. Der belgische Musiker Paul van Haver nennt sich Stromae. Das ist ein im französischen Straßenslang Verlan entstandenes Anagramm auf Maestro und wirkt wie das falsche Etikett an einem viel zu bescheidenen Star. Ungeachtet dessen heißt sein Mode- und Design-Label Mosaert – ein weiteres Anagramm.

Und selbst musikalisch betrachtet hat der 36-Jährige mit dem aus der Klassik entlehnten Begriff wenig zu tun, denn er betrat die Bühne der Popmusik durch die Türen des Hip-Hop und der elektronischen Musik. Dort gilt er seit seinem Hit Alors On Danse als Star. 2009 war das, als der ökonomisch produzierte House-Track mit Schmolllippe und Partypotenzial in mehreren europäischen Charts ganz nach oben kletterte.

Très uncool

Im Jahr darauf folgte sein Debütalbum Cheese, auf dem er sich als Klassenstreber mit Fliege und Pullunder inszenierte. Très uncool. 2013 gelang ihm mit dem Longplayer Racine Carrée ein Millionenseller – und dann war Pause. Bis jetzt.

Nun ist Multitude erschienen, Vielfalt. Und es weist Stromae in seinem Tun tatsächlich als eine Art Maestro aus. Nach sieben Jahren Pause vom Musikgeschäft kehrt er eindrucksvoll wieder – doch ist es kein Comeback mit Bombast und Pathos, es ist ein filigranes, ausgefuchstes Werk, edel produziert und mit jener Liebe zum Detail, die seine ganze Erscheinung prägt.

StromaeVEVO

Der schlanke Ein-Meter-neunzig-Mann verfügt über eine natürliche Eleganz und Lässigkeit, die seine Kunst spiegelt. Zugleich ist ihr eine Melancholie eingeschrieben, die seinen Tracks eine originäre Erhabenheit verleiht, die im Einzugsgebiet der eher auf den einfachen Effekt zielenden Clubmusik selten ist.

Man ist versucht, den Grund dafür in seiner Biografie zu suchen, und wird dort schnell fündig: Stromaes Vater war Architekt und kam aus Ruanda, wo er im Bürgerkrieg 1994 getötet wurde. Da war Paul acht Jahre alt; aufgewachsen ist er bei seiner belgischen Mutter.

Prominente Fans

Dementsprechend singt und rappt er auf Französisch, wobei er im freien Wechsel der Stile schon einmal wie Jacques Brels Enkel klingt, wie der Chansonnier und belgische Hausheilige – alles sehr ungewöhnlich für einen internationalen Star, der von Barack Obama genauso verehrt wird wie von Kanye West.

Die Schwermut erhebt nun auf Multitude erneut ihr Haupt. Stromae behandelt auf seinem Album popuntypische Themen wie Krebserkrankungen (Quand c’es) oder Depressionen in L’enfer (die Hölle) beziehungsweise dem Track Mauvaise journée.

StromaeVEVO

Erträglich wird das mit einem Schuss Lakonie und Stromaes Liebe zu Wortspielchen. Aufgelockert zusätzlich durch eine Liebeserklärung an seinen dreijährigen Sohn, samt der Erkenntnis, dass Brutpflege von jeder Menge Kacke begleitet wird. Profan zwar, doch Stromae behandelt selbst das Thema volle Windeln noch mit Eleganz.

Er bedient sich dafür aus einem Fundus von Musik, die allumfassend und trefferschwach als Weltmusik beschrieben wird. Er verwendet eine nicht zu geringe Dosis Reggaeton, also den Bastard aus Reggae, Hip-Hop und lateinamerikanischer Musik. Von da zieht es ihn nach Afrika. Auf einer Tournee dort ereilten ihn in den Zehnerjahren Panikattacken und Angststörungen als Nebenwirkungen eines Malaria-Medikaments.

Popstar von nebenan

Diese Symptome erkannte er als Warnsignal und nahm sich nach seiner Rückkehr selbst aus dem Spiel. Er heiratete, widmete sich weniger erodierenden Tätigkeiten (Design, Mode ...) und wurde zum Popstar von nebenan, der in Brüssel ganz normal einkaufen und das Kind spazieren fahren kann.

RANDOM' MUSIC' BY MASSATO 3

Doch diese Zäsur hat ihre Spuren hinterlassen, und Stromae benennt sie offen: Die Antriebslosigkeit, die damit einhergeht, betrachtet er nicht wie große Teile der Gesellschaft als Makel, sondern als etwas, das die Gesellschaft dem Individuum unzumutbarerweise zumutet. Sein Umgang damit hat ihm großen Zuspruch von anderen Betroffenen eingebracht.

Doch er stülpt seinem Publikum auf Multitude dennoch keinen Kübel Sorgen über, mit zehn Songs und einer Laufzeit von etwas mehr als einer halben Stunde ist das Album zwar knapp gehalten, doch man vermisst nichts. Es ist in seiner Zappeligkeit reichhaltig, es ist in seinen Stimmungen vielschichtig und in den Details prall. Es ist ein verwegener Mix aus Afrika, der Karibik, Asien – und Brüssel. Und er bewältigt ihn mit stets ernstem Gesicht, während ihm die Rhythmen ins Tanzbein fahren. (Karl Fluch, 11.3.2022)