Wartete auch vergeblich auf Telefonanrufe: Andy Warhol in seinen "Diaries" auf Netflix.

Foto: Andy Warhol Foundation/Netflix

Die sechsteilige Netflix-Dokumentation "The Andy Warhol Diaries" taucht tief ins Leben Andy Warhols ein. Große Stars sprechen gleich zu Beginn begeistert davon, wie sehr Warhol eine Gegenwart prägte, die vom Glamour besessen ist. Er malte Ikonen und wollte sich zur Ikone machen. Die Tagebücher eröffnen nun neue Blickwinkel auf Warhol.

Netflix

Eine Fernsehjournalistin fragt ihn 1976: "Ist Pop-Art repetitiv geworden?" Er antwortet kühl: "Ja", bevor ihm ein breites Lächeln entgleitet. Im selben Jahr beginnt auch die Autorin Pat Hackett jene Telefonate niederzuschreiben, die sie mit Warhol fast täglich bis zu seinem Tod 1987 führte. Die Tagebücher werden noch in den 1980ern als schweres Buch veröffentlicht. Nun hat sie Netflix mit viel Aufwand in ein zeitgemäßes Medium übertragen. Im Rausch von Bildern und Tönen – Warhols Stimme wurde mit einer AI wiederbelebt – stellt die Doku auch Suggestivfragen zum Zusammenhang von Leben und Werk.

6 von 400 Freunden

Schon Ende der Siebziger läuft es für Warhol nicht mehr. Er ist 50 geworden, und sein langjähriger Lebenspartner Jed Johnson hat ihn verlassen. "Ich war deprimiert", hört man den artifiziellen Warhol sagen, "ich wartete darauf, dass das Telefon klingelt, aber es klingelte nicht." Zur Vernissage seiner Schattenbilder, die in Richtung Abstraktion schielen, kommen in New York von 400 geladenen Freunden gerade einmal sechs.

Warhol gilt manchen ohnehin als banal. Nun ist er auch noch überholt. Mit diesem Bild, scheint es, will diese Dokumentation aufräumen. In Warhols Werk spiegelt sich das amerikanische Jahrhundert mit seinen inneren Widersprüchen. So viel wusste man bereits. Dass auch Sexualität, Hautfarbe und Religion derart tragende Rollen in vielen Arbeiten spielten, ist womöglich neu.

Lila und rote Narben

Die Doku-Serie spart dabei nicht mit Drama. Die Polaroids etwa, die Warhol von schwulen Männern in seinem Atelier beim Analsex schoss, um daraus sogenannte Landschaftsbilder zu fertigen, werden hier zum Keil in Warhols Beziehung. 1968 schießt eine Frau ganz buchstäblich auf Warhol. "Ich schaute auf meinen Körper und hatte Angst vor ihm", erinnert sich der Künstler später an die Folgen des Attentats. "Die Narben waren so frisch. Sie waren aber auch auf eine Art schön, lila, rot und braun."

Immer wieder versuchen die Macher der Doku das Schicksal Warhols auf eine universelle Ebene zu heben. So wird aus dem Fasziniertsein von weißen, angelsächsischen Boys schnell der Wunsch, als schwules Kind slowakischer Immigranten am amerikanischen Traum teilzuhaben. Mit dem richtigen Blazer konnte man bereits als jemand durchgehen, der aus einer guten Familie stammte. In der Serie kommt aber auch das Machtgefälle zwischen Warhol und seinen New Yorker Drag-Models zur Sprache, denen er eine lächerliche Gage zahlte.

Wenig Factory

Über Warhols frühe Jahre erfährt man wenig. Als Kind mochte er Campbell-Dosensuppe. Ob das allein die Bedeutung seiner ikonischen Bilder von 1962 erhellt, bleibt fraglich. Auch zur prägenden Zeit in der New Yorker Factory darf man sich wenig erwarten. Stattdessen kann man den Gedanken eines Künstlers zuhören, der abhängig war vom Scheinwerferlicht und bis zuletzt unter dem Gefühl litt, nicht akzeptiert zu sein. (Stefan Niederwieser, 11.3.2022)