Michael Hanekes Filme sind auch Belastungstests: Sie wollen Einsichten vermitteln, ohne Antworten zu liefern.

Foto: Heribert Corn

Akribie Zu den Regisseuren, die dem schnellen Wurf vertrauen, gehört Michael Haneke definitiv nicht. Präzises Handwerk steht an oberster Stelle. Er nennt sich selbst gern "Kontrollfreak". Einstellungen werden beim Dreh bis zu 25-mal wiederholt. Die Perfektion richtet Haneke aber auch gegen die Idee des makellosen Bildes. Die Filme nehmen kritische Distanz zum Prozess der Bilderherstellung ein. Haneke will zeigen, wie unverlässlich Wahrnehmung ist. Bildern ist nicht zu trauen. Wie bei der ersten Einstellung von Caché, die wie ein Blick auf eine Hausfassade wirkt, sich aber als Videobild entpuppt, das den Film in den Abgrund zieht.

Amour (fou) Amour, nicht "Amour fou", heißt Hanekes unerbittliches Drama über ein altes Paar, das sich seiner lebenslangen Verbundenheit in einem Akt der Euthanasie versichert. Das Attribut "fou", das für eine im französischen Kino so häufige Raserei der Liebe steht, wäre bei ihm verfehlt. Verrückt sind die Figuren Hanekes in einem anderen Sinn: Sie blicken mit leeren Augen auf die Ausweglosigkeit ihrer Situation und ziehen daraus eine letzte, tödliche Konsequenz. Schon in Der siebente Kontinent, seinem ersten Kinofilm, vermag sich eine Familie nicht anders zu helfen als durch eine penibel durchgeführte Selbstauslöschung.

Movieclips Trailers

Bresson Einziges filmisches Vorbild, das Haneke zulässt: Der französische Regisseur Robert Bresson, der sich mit seinem Kino radikal gegen die Tradition des Theaters richtete und nach einer Wahrheit in einer möglichst asketischen Form, in der Fragmentierung suchte: "Alles zu zeigen verdammt das Kino zum Klischee, zwingt es, die Dinge so zu zeigen, wie alle Welt gewohnt ist, sie zu sehen."

Feel-bad cinema Hanekes kompromissloses Kino hat dem heimischen Film ein langlebiges Label beschert: "world capital of feel-bad cinema" (Dennis Lim). Anders als das Feel-good-Movie, das seine Zuschauer umschmeichelt, geht es um Irritation – oder wie er selbst sagt: um Verstörung. Hanekes Kino verbreitet freilich nicht grundlos schlechte Laune: Er begreift das Kino als moralische Anstalt, die Einsichten in menschliche Passionen und gesellschaftliche Verwerfungen ermöglicht. Auch die "falsche" Verwendung des Mediums wird zum Thema. Berühmt wurde sein Diktum, er wolle den "Zuschauer zur Selbstständigkeit vergewaltigen". Im Anti-Thriller Funny Games beschwört er den Geist Adornos herauf und zeigt den "fun" als "Stahlbad" – mit diskutablem Erfolg.

Fernsehen Hanekes Anfänge liegen beim Fernsehen, wo er zunächst als Dramaturg tätig war. Mit Literaturverfilmungen von Franz Kafka, Joseph Roth oder Peter Rosei machte er sich einen Namen und konnte seine erzählerischen Mittel verfeinern. Lemminge zeigt ihn bereits als Filmemacher mit eigenständigem Thema, den Irrwegen der Nachkriegsgeneration. Seinen Wechsel zum Kino beschrieb Haneke einmal als Befreiung aus einer Erklärungsdramaturgie, die Psychologie hinter sich lässt – den ganzen "Mumpitz", mit dem man das Unerklärliche erklären will.

Moviepilot

Palmen finden sich so gut wie keine in Hanekes Filmen. Doch er gehört zum sehr kleinen Kreis jener Filmemacher, die zweimal die Goldene Palme in Cannes gewinnen konnten – für Das weiße Band und Amour. Für mediterranes Klima blieb Haneke beim Schreiben indes unempfänglich. Den Siebenten Kontinent verfasste er auf einer griechischen Insel.

Paris Hanekes Wechsel nach Frankreich, seiner zweiten filmischen Heimat, wurde durch Juliette Binoche veranlasst. Sie wollte mit Haneke zusammenarbeiten, das Ergebnis war Code inconnu, in dem die klaustrophobische Ausrichtung der österreichischen Filme ein Stück weit geöffnet wird. Seine Endspiele der bürgerlichen Welt finden in Paris, wo das Kino einen großen identifikatorischen Stellenwert hat, starken Nachhall. Mit Binoche drehte Haneke noch Caché, der sich mit der kolonialen Schuld Frankreichs befasst. Zweite wichtige Aktrice von Haneke ist natürlich Isabelle Huppert, die von der Klavierspielerin bis zu Happy End zur ständigen Verbündeten wurde – das Gesicht zur Erosion des bürgerlichen Weltmodells, die Haneke immer wieder aus neuen Blickwinkeln untersucht.

HD Retro Trailers

Vergletscherung Die "Trilogie der emotionalen Vergletscherung" (Der siebente Kontinent, Benny’s Video, 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls), Hanekes erste drei Kinofilme, behandeln eine bürgerliche Welt, in der die Figuren wie innerlich abgestorben agieren, verfangen in den Ritualen einer von Gleichförmigkeit bestimmten Gesellschaft. Kälte wurde zum Synonym für die Grundtemperatur seines Werks: Empathie ist kaum vorhanden. Manchmal beginnen Figuren grundlos zu weinen. Hanekes Filme handeln von unfreien Menschen, aber sie zeigen nicht, wie die Unfreiheit entsteht. (Dominik Kamalzadeh, 12.3.2022)