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Irokesen, die schon im 18. Jahrhundert die Europäer verspotteten: hier Nachfahre "Todadaho" Sidney Hall, Vertreter der Haudenosaunee.

Foto: AP/Monsivais

Mitunter muss man sich gerade die Untertanen gottähnlicher Könige als besonders glückliche Menschen vorstellen. Aus der Mitte des vorvorigen Jahrhunderts wird über ein Ritual aus den südwestpazifischen Fidschi-Inseln berichtet: Bei Sonnenaufgang herrschte vollkommene Stille. Ein Herold verkündete, der König sei im Begriffe, seine Kava-Wurzel zu kauen; woraufhin die frommen Insulaner in einen gemeinsamen Chor einstimmten: "Kau sie, kau sie!" Beschlossen wurde das Schauspiel, eine Kollektivfeier kosmischer Eintracht, mit donnerndem Gebrüll.

Das famose Anthropologie-Werk Anfänge der angelsächsischen Kulturphilosophen David Graeber und David Wengrow steckt voller Hinweise auf etwas, das bis vor kurzem als denkunmöglich galt. Seit den Tagen Jean-Jaques Rousseaus schien es, als hätte die Menschheit ihre Unschuld unwiederbringlich verloren. Das geläufige Vorurteil lautete: Nur die naiven Wilden – Jäger und Sammler, in ihrer Mehrheit Nussknacker und Wildbeuter – können frei leben. Beginnen die Menschen hingegen, im großen Stil Ackerbau zu treiben, organisieren sie ihr gemeinschaftliches Leben von Grund auf neu. Sie richten sich, vielfach zu ihrem Schaden, nach den Maßgaben der jungsteinzeitlichen Revolution.

Alte Erzählung

Wie viel besser wäre es nicht, die Kava-Wurzel aus freiem, spontanem Entschluss heraus zu kauen! Graeber/Wengrow erklären die alte Zivilisationserzählung für endgültig überholt. Bisher ließen sich Hundertschaften von Ethnologen, Archäologen, Materialisten von der immer gleichen Annahme leiten.

Kaum wird der gemeinsam erwirtschaftete Reichtum gesichert, um ihn weiterzureichen, schon tanzen die Mitglieder der neu entstandenen Großgesellschaften nach der Pfeife von Vorgesetzten. Hierarchien entstehen, verfestigen sich, bilden Strukturen des Zwangs. Auf der Strecke bleibt die heimliche Hauptheldin von Graeber/Wengrows Buch: eine Form intelligibler Vernunft, die es den Menschen seit jeher (auch) ermöglicht hat, ihr Zusammensein gemeinschaftlich festzulegen.

Diskursiv und egalitär, auf Basis von "Gruppenegoismen", die, zum Beispiel, gerade auch das Wähnen und Wollen der Frauen in den Vordergrund rücken. Graeber, der 2020 gerade einmal 59-jährig verstorbene Anthropologe, und Wengrow (50), der Oxford-Archäologe, sammeln eine Vielzahl von Hinweisen aus den formativen Jahrtausenden vor unserer Zeitrechnung.

Es führt nach allgemeiner Lesart, wenigstens aus europäischer Sicht, eine Art Königsweg hin zu den Ideen von Staatlichkeit und Souveränität. Das Entstehen kostspieliger Verwaltungen mündet geradewegs in die Etablierung von Stadtkulturen. Rivalisierende Herrscher liegen einander in den Haaren und sichern ihr posthumes Fortleben durch die Errichtung möglichst kostspieliger Monumente: ein Klischeereigen. Die Pointe besteht in der finalen Erwartung, jeglicher Fortschritt müsse, quasi von Gesetzes wegen, unsere liberal-demokratische Lebensform hervorbringen.

Eine groteske Vereinseitigung, so Graeber und Wengrow. Nicht umsonst hat ihr fast 700-seitiges Werk folgenden Untertitel: "Eine neue Geschichte der Menschheit". Es ist kaum möglich, die unzähligen Belege für eine stein(zeit)alte, für uns jedoch neuartige Form von Gesellschaftlichkeit zu zitieren. Sie führen den Leser nach Mesopotamien, nach China oder in die Anden. Mexikanische Hochland-Städte wie Teotihuacán, in deren Mitte Sonnenpyramiden standen, waren auf den Grundrissen von Menschenopfern errichtet (200 nach Christus).

Neue Freiheit

Und doch muss es einen massiven Zeitenwechsel gegeben haben: Funde lassen auf die Abschaffung der Gewaltkultur schließen, auf die Einführung von Nachbarschaftsräten, die das Gemeinschaftsleben in einen temporären, kultischen Reigen überführten. Ein wahres Paradies für halluzinogene Gottsucher und andere inspirierte Drogenesser.

So verwundert es nicht, dass gebildete Irokesenhäuptlinge bereits im 18. Jahrhundert über unsere europäischen Gehorsamskulturen nachsichtig den Kopf schüttelten. Die Missionare waren fassungslos: Stammesangehörige der Wendat lachten, wenn ihnen die Anordnungen ihrer Hauptleute missfielen, diese einfach aus! Die Frühgeschichte steckt voll von solchen gottgefälligen Spöttern. Diese hatten uns mancherlei Freiheiten voraus. (Ronald Pohl, 14.3.2022)