Es waren nur wenige Sekunden, die Marina Owsjannikowa live auf Sendung war, doch diese kurze Zeitspanne reichte aus für weltweite Aufmerksamkeit – und Bewunderung. Bewunderung nämlich für den aus Scham und Verzweiflung geborenen Mut, mit dem die 44-jährige Fernsehredakteurin in die Hauptnachrichtensendung "Wremja" des ersten Kanals des russischen Staatsfernsehens platzte. Dabei hielt sie, hinter Nachrichtensprecherin Jekaterina Andrejewa stehend, ein Plakat in die Kamera, auf dem handgeschriebene Slogans standen wie "Kein Krieg", "Beendet den Krieg", "Glauben Sie der Propaganda nicht", "Hier werden Sie belogen" und, auf Englisch, "Russen gegen den Krieg".

Wenige Sekunden war Marina Owsjannikowa mit ihrem Protest live auf Sendung.
Foto: youtube

Flankiert waren die Parolen mit den Zeichnungen einer blau-gelben ukrainischen und einer weiß-blau-roten russischen Flagge. Dazu rief sie aus: "Beendet den Krieg! Nein zum Krieg!"

Nach nur wenigen Sekunden schaltete die Regie auf einen vorbereiteten Bericht aus einem Krankenhaus um und beendete damit die Liveübertragung aus dem Studio. Dennoch gingen die Aufnahmen innerhalb weniger Minuten und Stunden um die Welt, wurden in den sozialen Medien millionenfach geteilt und kommentiert.

Aufenthaltsort stundenlang unbekannt

Owsjannikowa wurde umgehend festgenommen. Ihre drei Rechtsanwälte erklärten Medienberichten zufolge in der Nacht auf Dienstag, dass sie nichts über den aktuellen Aufenthaltsort ihrer Mandantin wüssten; sie hätten sie weder beim TV-Sender noch auf der angegebenen Polizeistation angetroffen; auch telefonisch sei sie nicht erreichbar gewesen.

Erst nach fast einem ganzen Tag tauchte Owsjannikowa wieder auf, an der Seite ihres Anwalts Anton Gashinsky. Berichte, denen zufolge sie womöglich nur eine kurze Haftstrafe bekommen dürfte, ließen sich vorerst nicht unabhängig verifizieren.

Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Tass muss die Mutter zweier Kinder "unter anderem" mit juristischer Verfolgung nach Artikel 20.3.3. des russischen Verwaltungsgesetzbuchs rechnen. Dieser regelt Sanktionen infolge "öffentlicher Handlungen, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zum Schutz der Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bürger sowie zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu diskreditieren".

Tatsächlich aber muss Owsjannikowa mit einer wesentlich härteren als "nur" einer Verwaltungsstrafe rechnen: Erst vergangene Woche verschärfte der russische Gesetzgeber die Sanktionsmöglichkeiten gegen Journalistinnen und Journalisten drastisch und droht nunmehr mit Haftstrafen bis zu 15 Jahren für nicht genehme Berichterstattung.

Protest in Video vorab angekündigt

Die Entscheidung Owsjannikowas, bewusst eine solche Haftstrafe oder gar Schlimmeres in Kauf zu nehmen, rang Millionen Menschen weltweit Bewunderung ab. Die Journalistin – 1978 im damals sowjetischen und heute ukrainischen Odessa als Tochter einer Russin und eines Ukrainers geboren – hatte ihre Protestaktion vorab auf Video angekündigt und mit der Scham begründet, die sie empfinde, als kollaborierende Journalistin jahrelang selbst Teil des russischen Propagandaapparats gewesen zu sein.

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In schwarzer Kleidung, mit einer Kette in den Farben der Ukraine und Russlands um den Hals, spricht sie von einem "Verbrechen", das in der Ukraine passiert. "Russland ist der Aggressor", sagt sie in dem Video und schreibt die Verantwortung dafür "nur einer Person" zu: dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Zu lange habe man in Russland über die Taten des "inhumanen Regimes" geschwiegen, sagt sie mit teils direkten, teils indirekten Hinweisen auf die Annexion der Krim-Halbinsel und auf den Giftanschlag auf Oppositionsführer Alexej Nawalny. "Zehn Generationen" könnten Russland von solchen Verfehlungen und vom "mörderischen Bruderkrieg" in der Ukraine nicht reinwaschen. "Kommt heraus, protestiert!", appelliert sie. "Fürchtet euch nicht. Sie können uns nicht alle einsperren."

Owsjannikowa selbst – nach russischen Medienangaben studierte sie Journalismus an der Staatlichen Universität Kuban in Krasnodar sowie an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung in Moskau, und sie ist mit einem Regisseur des in der EU mittlerweile verbotenen Senders Russia Today verheiratet – wählte den Weg des Widerstands von innen heraus. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass Russlands Gesellschaft nicht so geschlossen hinter ihrer politischen Führung steht, wie diese es gerne hätte.(Gianluca Wallisch, red, 15.3.2022)