Ein Protestierender in Kiew mit einer Ausgabe von Taras Schewtschenkos Gedichtsammlung "Kobsa". Der Autor (1814–1861) gilt als ukrainischer Nationalheiliger.

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"Hab Dank", schreibt Lina Kostenko in einem ihrer Gedichte, "dass irgendwo auf dieser Welt heut noch kein Blut geflossen". Die Ukraine gehört seit inzwischen drei Wochen nicht zu jenen Orten auf der Welt. Kostenko, 1930 nahe Kiew geboren, veröffentlicht seit den 1950ern und hat sich nie angebiedert. Weil sie gegen die Unterdrückung ukrainischer Schriftsteller durch die Sowjetunion in den 1960ern Partei ergriff, wurde sie zensiert. Nun zählt sie zu den wichtigsten lebenden Autoren des Landes, auch weil sie den Ukrainerinnen und Ukrainern oft einen Spiegel vorhält. Im Roman Aufzeichnungen eines ukrainischen Verrückten (2011) kritisierte sie etwa die neuen ukrainischen Eliten und einen fehlenden Willen zu demokratischer Erneuerung. Der Kritikpunkt mag mittlerweile überholt sein. Einen tieferen Eindruck vom Werk Kostenkos kann man sich im soeben erschienenen Band Ich bin all das, was lieb und wert mir ist (Wieser) verschaffen.

Abwehrhaltung gegen Russland

"Die Abwehrhaltung gegenüber Russland ist ein prägendes Thema der ukrainischen Literatur", sagt Alois Woldan, einer der profiliertesten Slawisten hierzulande. Er hat unter anderem Kostenkos eingangs zitiertes Gedicht übersetzt und weiß, wie sich das ukrainische Volk in seiner Literatur immer wieder selbst behauptet hat. Eine markante Figur dabei ist der den meisten österreichischen Lesern wohl recht unbekannte Taras Schewtschenko. Seine Verse aus dem 19. Jahrhundert wie "Boritesja – poborete" ("Kämpfe, du wirst siegen") sind jetzt im Widerstand zu hören.

Er gilt als der ukrainische Nationaldichter – einerseits wegen seines Umgangs mit der Sprache. Als erster großer Autor schrieb er nicht auf Russisch oder Polnisch, den Sprachen der damaligen Oberschicht, sondern in der ukrainischen Volkssprache, variierte sie und ihre Folklore auf einzigartige Weise. Zum anderen schrieb er, als Sohn von Leibeigenen geboren, über Freiheit, die Unterdrückung der einfachen Leute, die in den sozialpolitischen Verhältnissen unter die Räder kommen, und wandte sich gegen die Brutalität der Zaren.

Keine harmlosen Geschichten

"Mit "Schewtschenko kommt die Message, die die ukrainische Literatur mitzuteilen hat", sagt Woldan. Das zeigt sich gerade im Kontrast mit seinem bei uns berühmteren Zeitgenossen und Landsmann Gogol. Der habe schnell großen Erfolg gehabt mit harmlosen, lustigen Bauerngeschichten über abergläubische Figuren, die viel Wodka trinken und viel essen. "Bei Schewtschenko hingegen geht es etwa um die Verführung des Mädchens Katerina durch einen russischen Offizier. Das wurde sofort als Parabel gelesen: Das Mädchen ist die Ukraine, und der Offizier ist ein Zahnrädchen der russischen Unterwerfungsmaschinerie." Wegen solcher Texte wurde der Autor für zehn Jahre zum Militär eingezogen, ihm das Schreiben verboten.

Er blieb nicht der Einzige. Unterdrückung zieht sich durch die ukrainische Geschichte und durch ihre Literatur geradezu parallel.

"In den 1920er-Jahren setzte ein avantgardistischer Aufbruch ein, weg vom Bäuerlichen und Traditionellen. Er geschah auch im Sinne der Avantgarden in der bildenden Kunst und parallel zur Industrialisierung", sagt Woldan über eine nächste Blütezeit in der Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Das Ukrainische wurde nun unter ideologischen Vorzeichen gefördert. Die Phase dauerte jedoch nicht lange an, unter Stalin wurde die Lage in den 1930ern stark repressiv. Schriftsteller, die trotzdem an ihrer Sprache festgehalten haben, bezeichnet man heute vielsagend als "Generation der erschossenen Autoren".

Vielsprachigkeit

In den 1960ern, nach dem politischen "Tauwetter" in der Sowjetunion, bäumte sich die ukrainischsprachige Literatur erneut auf. Während die Erzählung im ganzen Sowjetstaat auf ein einheitliches sowjetisches Volk mit russischer Sprache hinauslief, beriefen sich ukrainische Autoren wieder auf die Eigenständigkeit ihrer Kultur und Sprache. Manche lernten erst aus Protest Ukrainisch. Viele kamen dafür ins Arbeitslager.

Ihre Vielsprachigkeit ist eines der markantesten Merkmale der ukrainischen Literatur. Das lässt sich aus der Geschichte dieses großen Gebietes zwischen Ost und West, das teils von den Russen und teils vom Kaisertum Österreich beherrscht wurde, das aber auch als zentraler Lebensraum ostmitteleuropäischer Juden fungierte, erklären. Autoren schrieben auf Polnisch, Deutsch, Russisch, Ukrainisch, Jiddisch. Manche wechselten auch ganz pragmatisch zwischen den Sprachen, weil sie auf Russisch einen größeren Markt erreichten.

Zersplitterung und Nation

Nun entstehen Nationen und Gemeinschaften aber nicht zuletzt aus den Geschichten, die eine Gesellschaft sich von sich selbst erzählt. Was bedeutet diese Zersplitterung für die Ukraine? Woldan sieht in der Vielfalt mehr Verbindendes als Trennendes: "Es ist stets Literatur aus einer ukrainischen Perspektive."

Mit der Auflösung der Sowjetunion trat auch die Literatur der Ukraine ab 1991 in eine neue Epoche ein. Im postmodernen Geist schreiben ihre Autoren oft ironisch, grotesk und dekonstruierend, aber deshalb nicht weniger ernsthaft. Die Bücher Juri Andruchowytschs wären hier zu nennen, auch jene von Serhij Zhadan, die oft das Grauen des Krieges thematisieren. Oksana Sabuschkos Essays sollte man, findet Woldan, ebenfalls lesen, weil sie viel zu einem Gefühl für die Eigenständigkeit der Ukraine beigetragen hätten. (Michael Wurmitzer, 17.3.2022)