Fantasie und Wunschtraum: Die Zwillinge Joséphine und Gabrielle Stanz spielen in "Petite Maman" Mutter und Tochter, die als Achtjährige aufeinandertreffen.

Foto: Alamode Film

Kommt sie aus der Zukunft? Von dem kleinen Weg hinter ihr, antwortet das Mädchen. Mit der Selbstverständlichkeit eines Märchens wird hier von einem unmöglichen Zusammentreffen erzählt. In Petite Maman begegnen einander Mutter und Tochter im Wald hinter dem Haus – beide sind acht Jahre alt. Es gibt keine langwierigen Erklärungen, keinerlei Misstrauen. Die Zeitreise, die in Zurück in die Zukunft noch eine Maschine brauchte, wird als Gelegenheit akzeptiert, mehr über den anderen zu erfahren. Endlich ein bisschen "quality time"!

Madman Films

Die nonchalante Ausgangssituation ist charakteristisch für den spezifisch weiblichen Blick der französischen Filmemacherin Céline Sciamma. Anstatt auf die Logik des Konflikts, auf Rivalitäten zu setzen, die Dramaturgien von jeher bestimmen, liegt ihr Augenmerk auf dem Begehren. So erschafft sie Möglichkeitsräume wie in Porträt einer jungen Frau in Flammen (2019), ihrem preisgekrönten Film über die Liebe einer Malerin zu ihrem Modell, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielt. Schon da interessierte sie sich kaum für Ungleichgewichte, sondern mehr für die Intimität und Verbundenheit, die in dieser Gemeinschaft von Frauen entsteht.

In Petite Maman, den Sciamma im ersten Corona-Jahr drehte, erfindet sie nun ihr eigenes "Raumschiff im Hintergarten", wie sie im Interview treffend sagt. Für den Film hat sie das Haus ihrer Großmutter am Rande von Paris reimaginiert, selbst manche Requisiten stammen noch aus deren Besitz. Was die Verbindungen der Generationen anbelangt, sei dies auch ein Film über ein Trio und die Idee eines matriarchalen Erbes: "Die zentrale Frage des Zusammentreffens von Mutter und Tochter war für mich, ob sie sich wie Schwestern verhalten würden und dieselbe Mutter teilen." Diese Wahrnehmung wird schon dadurch bestärkt, dass sie die Mädchen Nelly und Marion mit den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Stanz besetzt hat.

Dialog der Gleichgesinnten

Sciammas knapp über 70 Minuten langer Film wirkt unaufgeregt, fast beiläufig, ist aber dicht verwoben. Die Großmutter stirbt gleich zu Beginn, Nelly räumt daraufhin gemeinsam mit ihrem Vater das alte Haus. Ihre Mutter ist nur kurz zu sehen, sie erscheint wortkarg, introvertiert. Als Nelly deren jüngerem Ich im nahen Wald begegnet, könnte dies auch eine Wunschfantasie nach Nähe sein. Sciamma inszeniert das aber realistisch, wie eine Parallelspur. Auf der gibt es kein Rätsel zu klären, nur Möglichkeiten anzunehmen: Dasselbe Haus, dieselben herbstlichen Farben, selbst überraschende Überschneidungen der Welten – also das Wiedersehen mit der jüngeren Oma – sind plötzlich möglich.

Die Treffen erlauben es Nelly, ihre Mutter als Gleichgesinnte zu betrachten. Sciamma entwirft einen zarten Dialog, der sich nicht ans Alter, an soziale Normen halten muss. Von ernsthaften Erwachsenengesprächen unter Kindern wechselt der Film zurück in spielerisches Miteinander. In Rollenspielen meint man dann aber, etwas von den Sehnsüchten der beiden herauszuhören. Darin liegt auch die findige Politik dieses kleinen Films – er flacht Hierarchien tatsächlich ab. Wie dem japanischen Animationsmeister Hayao Miyazaki, ihrem erklärten Vorbild, gelingt es auch Sciamma, für Kinder und Erwachsene gleichermaßen auf Augenhöhe zu sein. (Dominik Kamalzadeh, 18.3.2022)