Bild nicht mehr verfügbar.

Sprich: Putin gegen Selenskyj, der es schafft, die Ukrainer via Netz zu mobilisieren.
Foto: Fernando Gutierrez-Juarez / dpa

STANDARD: Beim Symposion hätte es eigentlich um die Klimakrise gehen sollen. Jetzt wird alles vom Ukraine-Krieg überschattet. Ist dieser Krieg der erste tatsächliche Social-Media-Krieg? Wird dieser Krieg auf Kanälen wie Tiktok, Facebook und Instagram entschieden werden?

Pörksen: Nein, der Krieg wird hier nicht entschieden, aber seine Interpretation wird entscheidend durch die Auseinandersetzung in den sozialen Medien geprägt. Es gibt im Moment zwei miteinander rivalisierende Parallelwirklichkeiten, die unsere Wahrnehmung bestimmen. Da ist zum einen die erste Wirklichkeit des Krieges, angesiedelt in der analogen Welt. Hier regiert die militärische Gewalt Putins; hier werden ukrainische Zivilisten eingekesselt, bombardiert und getötet.

STANDARD: Hier ist Russland fundamental überlegen.

Pörksen: Stimmt. In der zweiten Wirklichkeit – der Netzrealität – stellen sich die Kräfteverhältnisse nach den ersten Wochen dieses entsetzlichen Angriffs hingegen anders dar. Hier, in dieser zweiten Realität, gibt es einerseits die Propagandaarmee von Putin, die Trolle, all die Propaganda- und Desinformationsanstrengungen. Aber dieser Propaganda- und Desinformationsarmee steht eine anderen publizistische Großmacht gegenüber, sie wird von dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und seinen Leuten angeführt; er inspiriert und dirigiert mithilfe seiner Botschaften über Zeit- und Landesgrenzen hinweg eine Gemeinschaft neuen Typs, ermöglicht durch die digitalen Medien, die Vernetzung, das Teilen von Information mit einem gemeinsamen Fokus. Ich bezeichne diese Gemeinschaft als Konnektiv, als eine Organisation ohne Organisation. Hier, im Netz, verläuft die Konfliktlinie also anders. Hier heißt es: Diktator gegen Schwarm.

STANDARD: Wer gehört zu einem solchen Konnektiv?

Pörksen: Jeder, der mag: Hacker, Militärexperten, die auf Twitter Tipps geben, wie man Straßensperren baut, ein junger Mann aus Florida, der einen Bot programmiert hat, der die Flugrouten der Luxusjets russischer Oligarchen sichtbar und verfolgbar macht. Dann ein aus der Ukraine geflohener Restaurantbesitzer, der eine eigene Website aufgebaut hat, die sich der Frage widmet: Wie redet man mit den russischen Verwandten, die an Putins Propaganda glauben, und unterläuft so die staatliche Informationskontrolle? Eben das ist das Attraktivitätsgeheimnis vernetzter Organisationsformen – individueller Selbstausdruck plus Zugehörigkeitsgefühl, Gemeinschaftserfahrung plus kollektives Engagement.

STANDARD: Wie erleben Sie Selenskyj, einen ehemaligen Komiker, der in der Netflix-Serie "Diener des Volkes" quasi seine eigene Zukunft als Präsident der Ukraine gespielt hat? Verschwimmen da die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion? Ist das etwas, das unser digitales Zeitalter ausmacht?

Pörksen: Ich würde anders formulieren. Das Schicksal von Selenskyj, das so direkt erfahrbar wird, ist für mich schlicht erschütternd, eben leider alles andere als Fiktion. Die Faszination seiner Person ergibt sich, so denke ich, aus der existenziellen Authentizität seines Handelns, seiner Verletzbarkeit. Hier riskiert jemand sein Leben für sein Land und die Demokratie, trotz der Möglichkeit zur Flucht, die ihm die USA angeboten haben. Sein Auftreten hat die Sanktionen und die Einigung Europas überhaupt erst in dieser Geschwindigkeit ermöglicht. Und doch können seine Mobilisierungserfolge die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht vor den Angriffen von Putins Armee bewahren. Im Letzten dominiert die militärische über die mediale und die kommunikative Macht, triumphiert die Gewalt. Eben das macht diese Tage und Wochen so schmerzhaft, so deprimierend.

STANDARD: Wie beobachten Sie als Medienwissenschafter die zurzeit recht vielschichtige, unübersichtliche Lage im Netz? Schauen Sie sich tatsächlich Tiktok-Videos an? Fließt das schon in Forschungsarbeiten ein?

Pörksen: Nein. Aber mir wird ein Befund meiner eigenen Arbeit im Moment verdächtig. In den vergangenen Jahren habe ich, ausgelöst durch die Pro-Brexit-Propaganda, die Wahl Donald Trumps und die Verbreitung von Verschwörungstheorien in Corona-Zeiten, wieder und wieder die These vertreten, dass soziale Medien viel zu oft Instrumente der Polarisierung sind, Werkzeuge der Demokratiegefährdung. Gerade in diesem Krieg wird jedoch deutlich: Soziale Netzwerke geben – politischen Willen und Entschiedenheit vorausgesetzt – den Verfolgten und Drangsalierten eine Stimme. Sie taugen zur unmittelbaren Dokumentation von Gewalt und Unrecht, ermöglichen eine eigentümliche, medial erzeugte Fern-Nähe, die wachrüttelt.

STANDARD: Wie funktionieren diese Narrative und Kanäle, etwa dass die Impfgegnerinnen und Verschwörungstheorien-Anhänger jetzt in ein Pro-Russland-Lager einschwenken?

Pörksen: Es gibt eine zahlenmäßig sehr überschaubare, aber doch gleichzeitig sehr lautstark auftretende Minderheit, die ein pauschales Systemmisstrauen pflegt. Was immer von "denen da oben" – Politik und Medien gelten hier als eine gemeinsame Front – gesagt wird, verdient es, bezweifelt und attackiert zu werden. Hier haben sich weltanschauliche Milieus herausgebildet, die eine Anti-Ideologie pflegen, aggressiv, aber intellektuell unselbstständig, weil vor allem reaktiv. Nun haben wir folgende Situation: Zum einen taugt die Pandemie aktuell nicht mehr wirklich als Aufreger für die Fundamentalopposition und Systemkritik; zum anderen aber bleibt die Wut. Also wird der große Verdacht, die frei flottierende, arbeitslos gewordene Empörungsenergie auf ein anderes Großthema umgeleitet. In manchen, moralisch verwahrlosten Bestätigungsgemeinschaften meint man dann, es sei geboten, den russischen Diktator zu verteidigen.

STANDARD: Journalismus hatte einmal eine Gatekeeper-Funktion, die ist jetzt beinahe obsolet geworden. Jeder mit einem internetfähigen Handy ist global sendefähig. Wohin wird uns das führen?

Pörksen: Schwer zu sagen. Aktuell zeigt sich dreierlei, so denke ich. Zum einen, dass Extremereignisse wie Kriege und Katastrophen die große Stunde der Falschmeldungen sind, weil wir Menschen – zumal in Momenten der Verunsicherung und Gefahr – fieberhaft nach Gewissheiten suchen. Und weil sich unter den aktuellen Kommunikationsbedingungen jede Menge Scheingewissheiten barrierefrei in die sozialen Netzwerke einspeisen lassen. Zum anderen wird gerade jetzt klar, dass professionelle Filterinstanzen unverzichtbar sind. Und schließlich muss man konstatieren, dass in der aktuell laufenden Medienrevolution ein großer, gesellschaftspolitisch noch nicht entzifferter Bildungsauftrag steckt. Denn jeder ist zum Sender geworden, ein Smartphone in der Hand, medienmächtig, aber nicht medienmündig.

STANDARD: Wie lässt sich heute beurteilen, wer Propaganda macht?

Pörksen: Das ist ungeheuer schwer. Meine Hoffnung war lange, dass es sich hier um eine Übergangsphase handelt, die digitale Pubertät vernetzter Gesellschaften. Dass wir uns da wieder herausbewegen – auf dem Weg zu einer tatsächlich medienmündigen Gesellschaft. Inzwischen meine ich, dass uns die Zeit davonläuft, zumal in einer Welt der asymmetrischen Wahrheitskriege mit maximal skrupellosen, verlogenen Playern. Wie kann da Aufklärung gelingen?

STANDARD: Und doch: Haben Sie praktische Tipps für unsere Leser und User, wie man Fake News entlarven kann?

Pörksen: Nur ein paar allgemeine Gedanken auf der Suche nach einem Kompass, die mir aber, wenn ich ehrlich bin, derzeit ein bisschen hilflos vorkommen. Meine Grundidee lautet, dass es heute gilt, journalistisches Bewusstsein zu trainieren, also Journalismus nicht mehr nur als spezielle Profession aufzufassen, sondern auch als ein System von handwerklichen Regeln, das eigentlich jeder kennen sollte. Und ich behaupte: In einer Zeit, in der jeder zum Sender wird, taugen die Maximen des guten Journalismus als eine Kommunikationsethik für die Allgemeinheit. Diese Maximen lauten zum Beispiel: "Analysiere deine Quellen!" Oder: "Prüfe erst, publiziere später!" Sowie: "Höre auch die andere Seite! Begegne deinen eigenen Urteilen und Vorurteilen mit Skepsis!" Ich nenne dies die konkrete Utopie der redaktionellen Gesellschaft, aber denke nach einer Fülle von zeitraubenden und absolut ergebnislosen Gesprächen in Bildungsministerien in verschiedenen Ländern: Warum sind offene Gesellschaften so verzagt, so mutlos und so unfähig, die gewaltigen Desinformationskosten zu senken, die bei jeder Klima- und Impfdebatte, aber auch in diesen Kriegstagen so unmittelbar spürbar sind? Gut möglich also, dass die Macht der Bullshitter, der Pseudoskeptiker, der denkfaulen, aber begeistert zündelnden False-Balance-Provokateure noch einmal wächst.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Demnächst erscheint sein neues Buch "Digital Fever. Taming the Big Business of Disinformation" (Palgrave Macmillan).

STANDARD: Ganz so düster können wir nicht enden, oder?

Pörksen: Sie haben recht. Daher würde ich sagen: Der Optimist schminkt sich die Verhältnisse schön. Der Pessimist gibt vorschnell auf. Aber die Hoffnung, dass Aufklärung doch gelingt – diese Idee ist in einer Demokratie alternativlos. (Mia Eidlhuber, 20.3.2022)