Wladimir Putin bei seinem Auftritt am Freitag. Die Loro- Piana-Jacke kostet 1,45 Millionen Rubel (12.454 Euro).

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Wäre Russland heute eine friedliche Demokratie, wenn Boris Jelzin zur Jahrtausendwende nicht den Ex-KGB-Mann Wladimir Putin, sondern einen liberalen Politiker als Nachfolger bestimmt hätte? Wenn man den Analysen folgt, die auf der klassischen Schule der Geopolitik basieren, dann lautet die Antwort: nein. Der Überfall auf die Ukraine ist demnach nicht der einsame Beschluss eines Mannes, sondern ist tief in der russischen Geschichte verwurzelt – und noch mehr in der Geografie.

Für harte Realisten wie George Friedman, den Gründer der Beratungsfirma Stratfor, oder den Silicon-Valley-Analysten Tomas Pueyo, ist Geografie Schicksal – ein Schicksal, das Russland zur Diktatur und Aggression verdammt. "Russland hat gelernt, dass es sich nur schützen kann, wenn es so viele Puffergebiete wie möglich erobert, und deshalb tut es das auch", schrieb Pueyo, der mit seinen scharfsinnigen Corona-Analysen bekannt wurde, kurz vor Kriegsbeginn. Dieser Ansatz ist nicht unumstritten, aber interessant.

Russland, das ist in erster Linie das Kernland rund um Moskau. Dieses liegt inmitten der eurasischen Ebene, die von der nordfranzösischen Atlantikküste bis an den Pazifik reicht und kaum physische Barrieren aufweist, die zur Verteidigung dienen. Tatsächlich wurde Russland in der Geschichte immer wieder angegriffen, zunächst von den Mongolen und anderen Steppenvölkern. Diese Bedrohung endete erst, als die Herrscher in Moskau Sibirien eroberten. Doch vom Westen her blieb Russland verwundbar – wie die Kriege gegen Napoleon, das Deutsche Kaiserreich und das NS-Regime eindringlich bewiesen.

Expansion des Zarenreichs

Für dieses Problem kannte Russland immer nur eine Lösung: möglichst große Gebiete in seiner näheren Nachbarschaft zu beherrschen. So dehnte sich das Zarenreich immer weiter nach Westen und Süden aus, nahm zuerst die Ukraine, dann den Großteil von Polen und später auch den Kaukasus sowie weite Teile Zentralasiens ein.

Das hatte massive Folgen für den inneren Zustand des Landes: Weil die Herrschaft über andere Völker eine starke Führung mit Bereitschaft zur Gewalt verlangt, war das Zarenreich besonders repressiv. Und weil gewaltige Summen in das Militär gesteckt werden mussten, blieb Russland, das ohnehin durch seine geografische Größe, das harsche Klima und fehlende maritimen Handelsrouten wirtschaftlich benachteiligt ist, immer ärmer als die Staaten weiter im Westen. Der Erste Weltkrieg überforderte das Zarenreich militärisch und wirtschaftlich: Im Revolutionsjahr 1917 brach es in sich zusammen.

Das gleiche Muster setzte sich nach der kommunistischen Machtübernahme fort: Die Sowjetunion war nach innen repressiv, nach außen aggressiv und fühlte sich zu gewaltigen Militärausgaben gezwungen, die die Wirtschaft schwer belasten.

Nach 1945 erreichte das russische Imperium dank des opferreichen Sieges über Adolf Hitler seine größte geografische Ausdehnung: Der Warschauer Pakt reichte bis nach Mitteleuropa hinein. Das Nukleararsenal bewahrte die UdSSR vor einem neuerlichen großen Landkrieg, aber nicht vor den Kosten der Verteidigung. Wie schon der Erste Weltkrieg mündete der Kalte Krieg in einem wirtschaftlichen Kollaps, der das Reich zerfallen ließ.

Zurück zu den alten Grenzen

Mit dem Ende der Sowjetunion fiel Russland 1992 mehr oder weniger auf die Grenzen zurück, die es vor Peter dem Großen im 17. Jahrhundert hatte. Es verlor nicht nur Polen und das Baltikum, sondern auch Belarus und die Ukraine. Das sind Grenzen, die sich aus russischer Sicht nicht verteidigen lassen, wenn man von Feinden umgeben ist. Und Russland hat sich in seiner Geschichte immer von Feinden umgeben gefühlt. Die Nato-Erweiterung bis an die eigenen Grenzen hat diese Überzeugung bekräftigt, und vor allem hat die zunehmende Westorientierung der Ukraine die schlimmsten Ängste geschürt.

Dieses Phänomen sieht auch Alison Smale, eine ehemalige New York Times-Journalistin in Wien, die Russland sehr gut kennt. "Die Angst um seine Sicherheit bestimmt Russlands Strategie, und für Russland beinhaltet Sicherheit, dass es die Nachbarländer kontrolliert", sagt sie. Dazu komme der Wunsch, "dass seine Macht und Herrlichkeit von anderen Staaten anerkannt wird, die dem nicht immer folgen".

Aber wie schon in der Vergangenheit werde der Expansionsdrang nach Westen auch jetzt wieder von Russlands wirtschaftlicher Schwäche und sozialer Instabilität zurückgeworfen, hieß es in einer Stratfor-Analyse nach der Annexion der Krim 2014: "Dieser Zyklus hat nichts mit russischer Ideologie und russischem Charakter zu tun. Es ist die Geografie, die Ideologie und Charakter hervorbringt. Russland ist Russland und im ewigen Kampf verstrickt."

Den Drang, ihre Region zu kontrollieren, verspüren auch andere Großmächte, so etwa die USA in Lateinamerika, China in Ostasien und sogar Indien. Aber all diese Staaten genießen mehr oder weniger sichere Grenzen und leiden daher nicht unter dem Trauma, von Feinden wieder überrannt zu werden.

Diese nationale Obsession macht Russland zu einem Außenseiter in der Weltpolitik und ganz besonders in Europa, wo nur Serbien nach dem Zerfall von Jugoslawien ähnliche Tendenzen zeigte. Aber ist Russland dazu verdammt, oder kann es in einer Zeit nach Putin doch ein normales Land werden, das seine Mission darin sieht, seiner Bevölkerung ein Leben in Wohlstand und Frieden zu bieten?

Das war das Ziel von Michail Gorbatschow und seinen Beratern, als sie ab 1986 mit Glasnost und Perestroika die Reform der Sowjetunion in Angriff nahmen. Ein Jahrzehnt lang zeigte sich ein anderes Bild der russischen Nation und erweckte bei einer neuen liberalen Schicht und vor allem im Westen die Hoffnung auf einen Bruch mit der Vergangenheit.

In Russland selbst aber waren diese Jahre traumatisch, denn durch den Übergang zum Kapitalismus verschlechterte sich das Leben für die Mehrheit katastrophal, sagt Smale. "Gorbatschow wird im Westen immer bewundert werden, aber in seiner Heimat ist er wirklich unbeliebt. Die Gorbatschow-Saga ist sinnbildlich für den schwierigen Umgang mit Russland – es ist wie ein bockiges Rodeopferd." Putin hingegen habe ein Ende der Erniedrigungen dieser Jahre versprochen und damit die Unterstützung der Mehrheit gewonnen.

Was wäre gewesen, wenn ...?

An dieser Stelle kann man den Determinismus der Geopolitiker hinterfragen. Wären die Gorbatschow- und Jelzin-Jahre anders gelaufen, hätten sie einen Wohlstandszuwachs wie in Polen nach 1989 oder in Deutschland nach 1945 gebracht, dann hätte wohl auch Russland einen anderen Kurs einschlagen können.

Selbst wenn der Ukraine-Krieg nicht nach den Plänen des Kremls verläuft und dies Putins Macht schwächt, ist eine grundlegende Änderung der russischen Politik schwer vorstellbar. Die Anhänger des Oppositionellen Alexej Nawalny stellen nur eine kleine Minderheit dar, und der Überfall auf die Ukraine wird die alten Ängste weiter verschärfen. Denn die Nato rückt nun näher an Russland heran, sei es durch eine Aufrüstung in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten oder gar einen Beitritt von Finnland und Schweden. Und die wirtschaftliche Isolation schwächt genau jene Gruppen, die sich ein anderes Russland wünschen. Auch im 21. Jahrhundert muss Europa wohl mit einem großen Nachbarn leben, der in einer anderen Geschichtsepoche verharrt. (Eric Frey, 18.3.2022)