"Stillleben" von Herbert Ploberger entstand 1926 und wird der Neuen Sachlichkeit zugerechnet. Die reduzierte Inszenierung alltäglicher Objekte war typisch für die Zwischenkriegszeit.
Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien

Fast futuristisch stoßen die rauchenden Schlote in den Himmel. Glühend rot bis kühl türkis wächst das Stahlwerk – so der Titel des Gemäldes von Paul Kirnig – in den Himmel. Die Sonne leuchtet nur noch blass, zwei kleine Arbeiterfiguren verschwinden fast am unteren Rand.

Dass es sich hier um eine realistische Abbildung einer Fabrik in den 1930er-Jahren handeln soll, kann man angesichts der freien Gestaltung hinterfragen. Das daneben hängende Werk von Hugo Charlemont hingegen hält eine Werkstatt detailgetreu in dunklen Tönen fest: Schwerstarbeit, Schmutz, Schweiß.

Der Kontrast der beiden Bilder, die in der Ausstellung Lebensnah. Realistische Malerei von 1850 bis 1950 im Oberen Belvedere in Wien zu sehen sind, möchte die Vielfalt des Realismus in der Malerei aufzeigen. Dafür haben Kerstin Jesse und Franz Smola etwa 80 Positionen aus der hauseigenen Sammlung geholt und einander gegenübergestellt. Realismus verstehen sie weniger als Kunstströmung denn als Geisteshaltung, die anders als der Naturalismus tiefer liegende Wahrheiten aufdecken möchte. Alltägliches wird nicht nur in der äußeren Wirklichkeit erkannt, sondern auch in einer inneren. Spiegelt Kirnigs Stahlwerk also die Seele seiner Zeit wider?

"Hof zwischen Großstadthäusern" von Erich Miller-Hauenfels, 1934.
Foto: Belvedere, Wien

Armut und Tristesse

Sogenannte Meisterwerke werden hier zwar nicht geboten, dafür erstmals Klimts Bildnis Mathilde Trau, und neben großteils österreichischen Künstlern – und einzelnen Künstlerinnen wie Caroline Kubin und Friedl Dicker-Brandeis – sind auch Van Gogh oder Gustave Courbet vertreten. Auf Letzteren ist der Begriff des Realismus zurückzuführen: 1855 präsentierte der französische Maler im Rahmen der Weltausstellung in Paris Werke unter dem Begriff "Le Rèalisme" – und mit ihnen eine neue Nüchternheit in der Malerei.

Besonders daran waren auch die unkonventionellen Motive und die Verhandlung sozialer Themen. In der Schau werden Kinderarmut, triste Landschaften und einfache Menschen gezeigt: Dienstboten, Mägde, Verwundete, Marktverkäufer. Figuren wie Elena Luksch-Makowskys Zwerg oder Josef Engelharts Pülcher werden sichtbar.

"Holzsammelnde Kinder" von Anton Filkuka, 1925.
Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien

Zugegeben verwundern dabei die braven Kapitelnamen wie "Rückzug und Reflexion" oder "Die Welt erfassen", die wenig lebensnah wirken. Obwohl sich die Szenen in einer Zeit voller Umbrüche und Kriege abspielten, geht die Ausstellung überraschend wenig auf soziale und politische Ereignisse sowie die Rolle der realistischen Malerei ein. Was steckt hinter vermeintlich harmlosen Abschiedsszenen, Arbeitsstätten oder Stillleben? Die malerische Ästhetik beeindruckt in dieser Vielfalt – durch den Fokus darauf gerät die tatsächliche Realität hinter den Bildern aber aus dem Blick. (Katharina Rustler, 22.3.2022)