Vor allem Frauen und Kinder flüchteten aus der Ukraine über die Grenze und sind dabei Gefahren ausgesetzt.

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Geflüchtete Frauen fanden Zuflucht in einer Kirche nördlich von Goma in der Demokratischen Republik Kongo.

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Mehr als 3,5 Millionen Menschen haben die Ukraine seit dem russischen Einmarsch verlassen – vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen, da Männer zwischen 18 und 60 Jahren für den Militärdienst eingezogen werden. Fachleute und Hilfsorganisationen weisen darauf hin, dass geflüchtete Frauen spezielle Bedürfnisse haben, vor anderen Herausforderungen stehen: Sexualisierte Gewalt betrifft geflüchtete Frauen ebenso stärker wie Menschenhandel.

Medizinische Hilfe erhalten die Menschen einerseits von den nationalen medizinischen Einrichtungen, andererseits von internationalen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF), die mit mobilen Notkliniken an den Grenzen sind. Da es sich bei der großen Fluchtbewegung in der Ukraine um eine akute Notsituation handelt, gibt es keine speziellen Hilfsangebote für Frauen. In langandauernden Konflikten und längerfristigen Projekten von MSF macht man sich aber Gedanken darüber, wie man medizinische Hilfe gezielt für Patientinnen anbietet – vor allem, wenn es um Frauenrechte in einem anderen kulturellen Umfeld geht.

Doris Burtscher ist Kultur- und Sozialanthropologin und hat sich auf Ethnomedizin spezialisiert. Seit 2001 arbeitet sie für MSF und berichtet im Gespräch mit dem STANDARD vom Spannungsfeld zwischen medizinischer Hilfe, Frauenrechten und dem Respekt vor anderen Kulturen.

  • Gefahren und Herausforderungen auf der Flucht

Während bewaffneter Konflikte sind Frauen noch vulnerabler, sagt Burtscher. Sie verlieren – wie alle anderen Menschen auf der Flucht – oft den Zugang zu medizinischer Versorgung. "Der Zugang zu Hygieneartikeln ist schwierig bis gar nicht möglich, und schwangere Frauen haben keine Sicherheit, wie und wo sich die Geburt durchführen lässt", sagt die Anthropologin. Weltweit entstehen bei mehr als 40 Prozent aller Schwangerschaften Komplikationen, bei 15 Prozent sogar lebensbedrohliche. In Kriegsgebieten steigt die Zahl stark an.

Auf der Flucht sind vor allem allein reisende Frauen und Mädchen sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Soldaten und Milizen verwenden sie als Waffe im Krieg, andere setzen darauf, dass sie während des Konflikts mit ihren Taten ungestraft davonkommen. Auch Menschenhändler missbrauchen die Not der geflüchteten Frauen, um sie zu verschleppen und zu verkaufen.

  • Verhütung und Familienplanung

Doch selbst wenn es allein darum geht, dass Frauen keine Kinder (mehr) bekommen wollen, fällt es den medizinischen Einsatzkräften in manchen Ländern nicht leicht, den Patientinnen zu helfen. Dreimonatsspritzen, Spiralen und selbst Kondome werden in manchen Kulturen als unnatürlich abgelehnt. "In Eswatini, Simbabwe und Sambia habe ich erlebt, dass Männer misstrauisch werden, wenn Frauen ein Kondom einfordern", sagt Burtscher. Sie würden dann annehmen, dass die Frauen nicht treu sind. "Denn nur Frauen, die mit mehreren Partnern schlafen, verwenden Verhütung, so die Annahme", sagt die Anthropologin.

Dabei müssten die Frauen lernen, dass sie auf Verhütung bestehen dürfen, und Männer, dass sie sich mit Kondomen selbst vor Geschlechtskrankheiten schützen. Auch innerhalb der Ehe.

Um ein Umdenken zu erwirken, müsse man bereits bei den Jugendlichen ansetzen: "Kondome müssen etwas Begehrenswertes sein", sagt Burtscher und erzählt, dass kleine Marketingtricks oft eine große Wirkung haben: "Bunte Kondome waren in den Projekten immer beliebter als die Hunderterpackung grauer Präservative."

  • Schwangerschaft

Ein Umdenken müsste es auch bei der Wahrnehmung von (ungewollten) Schwangerschaften oder Teenager-Schwangerschaften geben, sagt die Anthropologin. Denn oft sind die Mütter in weiterer Folge immer wieder Opfer.

In der Demokratischen Republik Kongo dürfen schwangere Mädchen meist nicht mehr zur Schule gehen, weil sie ein schlechtes Beispiel für Klassenkameradinnen abgeben, und verlieren so den Zugang zu Bildung. In anderen Ländern gilt eine unverheiratete Frau mit Kind als nicht mehr vermittelbar, oft gehen die Frauen Sexarbeit nach, werden dann wieder schwanger. "Es ist eine ausweglose Situation", erzählt Burtscher.

  • Recht auf Abtreibung

Sind Frauen ungewollt schwanger geworden, haben sie nicht überall Zugang zu sicheren Abtreibungsmethoden. "Wir bieten Schwangerschaftsabbrüche in vielen Projekten an und schulen dazu nicht nur die Gemeinschaften, sondern auch die Einsatzkräfte", sagt Burtscher.

Sie erzählt von einem Projekt in der Demokratischen Republik Kongo, in dem es um die Gründe für Abtreibungen ging: dass Frauen nicht nur nach Vergewaltigungen die Schwangerschaft abbrechen möchten, sondern manchmal mit der Familienplanung abgeschlossen haben, zu wenig Einkommen für noch ein Kind haben oder durch außerehelichen Geschlechtsverkehr schwanger werden. "Jede Frau sollte das Recht haben, eine Schwangerschaft zu beenden", sagt Burtscher. Das müssten auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anerkennen.

Denn wird den Betroffenen nicht geholfen, würden sie den Schwangerschaftsabbruch mit Pflanzen oder spitzen Gegenständen herbeiführen – beides führt in vielen Fällen zu schweren Verletzungen.

In Sierra Leone hatte sie etwa in einer Studie aufgedeckt, dass viele Frauen Hilfe bei traditionellen Heilern suchten, da sie in den öffentlichen Gesundheitszentren unfreundlich und respektlos behandelt wurden.

  • Problematik FGM

Ähnlich wie bei ungewollten Schwangerschaften verhält es sich beim Thema weibliche Genitalbeschneidung (Female Genital Mutilation, FGM, oder Female Genital Cutting, FGC). Mädchen und Frauen, die nicht beschnitten wurden, finden nur schwer einen Ehemann. Zu den körperlichen Schmerzen kommt die soziale Ächtung hinzu. Burtscher beschreibt das Beispiel eines Burschen, der in einem Projekt im Tschad stolz erzählt hat, dass seine Schwester einen Mann gefunden hat, obwohl sie nicht beschnitten ist. Doch im Nachsatz fügte er hinzu, dass fast niemand zu der Hochzeit kam.

"Viele Frauen und Männer wissen, dass die Beschneidung nicht gut ist, aber der soziale Druck ist zu groß", sagt die Anthropologin. Es wird versucht ein Umdenken zu erreichen, indem das Ritual an sich abgeändert wird: "Den Übergang zur Frau kann man auch alternativ feiern", sagt Burtscher, "indem man etwa die Beschneidung nur andeutet." (Bianca Blei, 24.3.2022)