Joaquin Phoenix mit Co-Darsteller Woody Norman.

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Hinter Mike Mills steht ein Bild von Buster Keaton auf der Kommode. Es steht dort nicht zufällig, schließlich wählt ein Filmemacher seinen Bildausschnitt auch beim Zoom-Gespräch mit Bedacht. Mills bezeichnete den Stummfilmkomiker einmal als seinen "Großvater" – er sei ein Vorbild für künstlerische Autonomie. Wie Mills lebte auch Keaton in Silver Lake, jenem dörflichen Viertel im Osten von Los Angeles, in das es bis heute noch viele Künstlerinnen und Künstler zieht.

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Mills’ Filme legen ihre Referenzen auf vergleichbare Weise offen. Nicht, weil es ihm ums Zitieren geht, er sucht nur das größere Framing. C’mon C’mon, sein jüngster Film, erzählt vom Radiojournalisten Johnny, der sich um den neunjährigen Sohn seiner Schwester kümmert, ohne Erfahrungen im Umgang mit Kindern zu besitzen. Mills reflektiert darin sein Verhältnis zu seinem eigenen Sohn Hopper und dessen Mutter, der Schriftstellerin Miranda July. Zugleich streut er Buchtitel über Mutterschaft und Erziehung in den Schwarzweißfilm ein. Das Persönliche ragt immer über den Tellerrand hinaus.

"Ich bin wirklich grauenhaft darin, so etwas wie einen Plot zu erfinden. Die kausale Entwicklung einer Geschichte beherrsche ich nicht. Deswegen denke ich immer in Netzwerken, in Interessensbündel", sagt Mills in seiner charakteristisch bescheidenen Art. "Die Dinge scheinen Beziehungen zu mir zu haben, Energien untereinander freizusetzen. Ich interessiere mich für Erinnerung, dafür, wie Dinge vergehen, für das Ephemere schlechthin. Woran kann man sich halten?"

Männer, die über das Elternsein nachdenken: Regisseur Mike Mills mit seinem Hauptdarsteller Joaquin Phoenix am Set von "C’mon C’mon".

Eine Antwort darauf wäre: Man orientiert sich an Menschen und deren Platz in der Zeit. In seinem Film Beginners (2010) spielt Christopher Plummer den von Mills’ Vater inspirierten Part eines Mannes, der sich im Alter von 75 Jahren endlich als Homosexueller zu outen entschließt. Der von Ewan McGregor verkörperte Sohn reagiert auf diesen Ausbruch von später Lebenslust verständnisvoll, auch eine Spur irritiert. Schon in diesem Film finden sich wiederholt Archivbilder und Fotos, die auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Prägungen der Generationen verweisen – auf Sensibilitäten, die sich im Laufe der Jahre verschieben.

Distanz zu Hollywood

Obwohl Plummer für Beginners mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, hält Mills bis heute zu Hollywood und dessen konventionellen Gefühlsdramaturgien Distanz. Er hadert generell mit den kommerziellen Anforderungen des Filmgeschäfts, weil es seinem Anliegen, intime Filme mit autobiografischen Bezügen zu realisieren, im Wege steht. Nichts sei verrückter als Familien, sagt er gerne. In 20th Century Women, dem Nachfolgefilm von Beginners, erzählt er davon, wie seine von Annette Bening verkörperte Mutter 1979 auf die Idee verfiel, ihm als Teenager zwei jüngere Frauen an die Seite zu stellen. Allerdings hatte die Therapie nicht beabsichtigte Folgen: Er lernte viel über weibliche Selbstermächtigung und die Bedeutung der Klitoris.

Frauen haben Mills auch im wirklichen Leben angeleitet: In den 1980er-Jahren folgte der heute 56-Jährige seiner Schwester nach New York, um Kunst zu studieren. Danach spielte er Bass in einer Band namens Butter 08, arbeitete für Modefirmen, designte Albumcovers – darunter auch welche der Beastie Boys.

Wie Harmony Korine oder Spike Jonze, die auch Filmregisseure wurden, blieb Mills in seinem innersten Selbstverständnis ein Skateboarder. Sein Musikvideo zu All I Need von Air feiert das Lebensgefühl dieser Kultur zwischen Halfpipes und Suburbiastraßen in sonnendurchtränkten Bildern. 2000 realisierte er, mittlerweile Mitinhaber einer Produktionsfirma, sein Filmdebüt Thumbsucker über einen Burschen, der gegen seine Familie aufbegehrt.

Der Kid als Show-Stealer

C’mon C’mon setzt nun die Beschäftigung mit Beziehungen fort, verdankt sich aber auch der Idee, ein Projekt mit Joaquin Phoenix zu realisieren. In der Rolle von Johnny wirkt er so zerknautscht wie noch nie. Das Herz des Films bildet das unverfälschte, aber komplex arrangierte Zusammenspiel zwischen ihm und dem jungen Briten Woody Norman, der Phoenix beinahe die Show stiehlt. "Es fühlte sich so an, als sei Woody der Star und Joaquin der Kinderdarsteller." Oft habe er ihn überrumpelt, erzählt Mills: "Wir nannten ihn X-Akte, weil es schwer vorherzusehen war, was er als Nächstes tut."

Den Gefahren einer sentimentalen Reise in die Selbstheilung geht C’mon C’mon geschickt aus dem Weg, indem er sich immer wieder in neue Richtungen öffnet – etwa in dokumentarischen Interviews mit anderen Kindern. "In Verbindung mit der Kindheit wird Erinnerung für mich besonders intensiv", sagt Mills. Wenn sein Sohn als Dreijähriger nur noch in seinem Kopf existiere, empfinde er das wie Trauer.

"Zeit ist für mich nicht linear, sie ist immer emotional. Wir sind niemals nur an einem Ort." Davon erzählen alle seine Filme – sie bewahren das Andenken an die Älteren und zeigen zugleich auf, wie Kindheit in den Älteren weiterlebt. (Dominik Kamalzadeh, 25.3.2022)