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Nadezha Suchorukowa: "Alle in dieser Stadt warten ständig auf den Tod."

Foto: Reuters / Alexander Ermochenko

Ich gehe auf die Straße in den Pausen zwischen Bombardierungen. Ich muss meinen Hund ausführen. Er wimmert stets, zittert, versteckt sich hinter meinen Beinen. Ich bin die ganze Zeit müde. Mein Hof, inmitten der Hochhäuser, ist still und tot. Ich habe keine Angst mehr, mich umzuschauen.

Gegenüber brennt das Treppenhaus des Hauses 105. Die Flammen haben fünf Stockwerke gefressen und kauen langsam am sechsten. In einem Zimmer brennt das Feuer sauber, wie im Kamin. Schwarze verkohlte Fenster stehen ohne Glas. Daraus fallen, wie Zungen, vom Feuer angenagte Vorhänge heraus. Ich schaue darauf, ruhig und wie ausgeliefert.

Ich bin sicher, dass ich bald sterbe. Das ist eine Frage von einigen Tagen. Alle in dieser Stadt warten ständig auf den Tod. Ich will nur, dass er nicht sehr schrecklich ist. Vor drei Tagen besuchte uns ein Freund meines ältesten Neffen und erzählte, dass es einen Volltreffer auf die Feuerwehrzentrale gab. Die Jungs, die Retter, sind umgekommen. Einer Frau wurden Arme, Beine, Kopf abgerissen. Ich träume davon, dass alle meine Körperteile am Platz bleiben, selbst nach einer Fliegerbombenexplosion. Ich weiß nicht warum, es kommt mir wichtig vor.

Obwohl, andererseits, während der Kampfhandlungen wird man sowieso nicht bestattet. So haben uns Polizisten geantwortet, als wir sie auf der Straße anhielten und fragten, was wir mit der toten Oma eines unserer Bekannten tun sollen. Sie empfahlen, sie auf den Balkon zu legen. Interessant, auf wie vielen Balkonen liegen jetzt tote Körper?

Gab es irgendwann ein anderes Leben?

Unser Haus ist das einzige am Prospekt Mira – in der "Straße des Friedens" – ohne Volltreffer. Es wurde zweimal von Raketen gestreift, in einigen Wohnungen flogen Fenster heraus, aber es ist fast unbeschädigt, und im Vergleich mit anderen Häusern sieht es wie ein Glückspilz aus.

Der Hof ist mit mehreren Schichten von Asche, Glas, Plastik und Metallsplitter bedeckt. Ich versuche, nicht in die Richtung des Eisenklotzes zu schauen, der auf den Kinderspielplatz gefallen ist. Ich denke, das ist eine Rakete oder vielleicht eine Mine. Es ist mir egal, nur unangenehm.

Im Fenster des zweiten Obergeschoßes sehe ich ein Gesicht, und mich schaudert es. Es stellt sich heraus, dass ich Angst vor lebenden Menschen habe. Ich stehe am helllichten Tag auf der Straße, und rundherum ist Grabesstille. Keine Autos, keine Stimmen, weder Kinder noch Omis auf den Bänken. Selbst der Wind ist gestorben. Aber ein Paar Menschen sind doch da. Sie liegen an der Hausseite und auf dem Parkplatz, zugedeckt mit Oberbekleidung. Ich will sie nicht anschauen. Ich fürchte, einen Bekannten zu sehen.

Das ganze Leben glüht in meiner Stadt jetzt in Kellern. Es ähnelt der Kerze in unserem Abschnitt. Sie zu löschen ist kinderleicht. Jede Erschütterung, jeder Windhauch bringt Dunkelheit. Ich versuche zu weinen, aber ich kann nicht. Ich habe Mitleid mit mir, mit meinen Angehörigen, meinem Mann, Nachbarn, Freunden. Ich kehre zurück in den Keller.

Zwei Wochen sind vergangen, und ich weiß nicht mehr, dass es irgendwann ein anderes Leben gab. In Mariupol sitzen Menschen weiterhin in Kellern. Mit jedem Tag wird es für sie schwieriger, zu überleben. Sie haben kein Wasser, kein Essen, kein Licht, wegen des ständigen Beschusses können sie nicht mal auf die Straße gehen. Die Einwohner von Mariupol sollen leben. Helft ihnen. Erzählt darüber. Alle sollen wissen, dass hier friedliche Bürger und Bürgerinnen weiter getötet werden. (Nadezha Suchorukowa, ALBUM, 26.3.2022)