Mario Schlembach, Schriftsteller und Totengräber

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Sonnenschein, als wir zum Friedhof fahren. Hinter dem Hügel: dichter Nebel. Dreifachgrab. Trockener Boden. Hart. Noch niemand liegt in dieser Erde.


Der Bestatter erzählt, dass eine Frau in sein Büro kam, die ihren Mann verloren hat. "Wie kann man den am schnellsten entsorgen?", war ihre einzige Frage. "Nichts ist kälter als eine tote Liebe", hat Romy Schneider in ihrem Tagebuch notiert.


Ständig flackern Bilder von dieser einen Nacht in meinem Kopf herum und die Puzzleteile lassen sich durch Berichte von Freunden langsam zusammenfügen. Was ist geschehen? Ich habe getrunken. So viel weiß ich. Danach bin ich anscheinend einer Frau nachgelaufen, die sich ab einem gewissen Zeitpunkt bedrängt gefühlt hat. Ich ließ auf der Tanzfläche die Hosen fallen und schlief ein, weil ich gedacht habe, zu Hause zu sein.


Ich kenne G. nur flüchtig. Eine Freundin von ihr hat auf der Feier zu mir gesagt, dass sie mich mag, aber sich nicht trauen würde, mich anzusprechen. Ich bin angestachelt. Als ich genug Schnaps und Mut getankt habe, gehe ich zu ihr. Ich rede mich in einen Rausch. Spreche hauptsächlich über das Schreiben und das Buch über A., das alles sagen soll. Als G. mich nicht mehr beachtet, folge ich ihr überallhin. Die Welt um mich beginnt zu verschwimmen. Nichts bekomme ich mehr mit und denke mit geschlossenen Augen nur noch an die Worte ihrer Freundin: "Sie mag dich!" Und schon träume ich, G. zu gehören. Mit ihr ... tanzen. Nebel. Filmriss.


Obwohl ich noch immer nicht ganz genau weiß, was ich getan habe, schreibe ich G. einen pathetischen Entschuldigungsbrief. "Wir waren alle betrunken, mach dir keinen Kopf", erwidert sie fünf Minuten später. Ich bin erleichtert, aber das ist keine Rechtfertigung für meine Taten. All das Vergrabene kommt aus dem Unbewussten hoch. Zu was für einem Sehnsuchtsmonster werde ich? "Jedenfalls war es schön, dich einmal kennenzulernen", schreibt G. noch zum Abschluss. Ich antworte nicht mehr.


Heute einen kaum 60-jährigen Mann begraben. Vergangenen Sonntag ging er zur Ruhestätte seiner Frau, die erst wenige Monate zuvor gestorben war. Er zog eine Pistole und schoss sich in den Kopf. Der Körper landete auf der Grabplatte. Mit acht Jahren war der gemeinsame Sohn von einem Zug erfasst worden. Wohl einer der tragischsten Nachrufe, die ich je gehört habe. Der Bestatter musste Teile des Hirns von vier verschiedenen Gräbern wischen. Somewhere over the rainbow. Amazing Grace. Wir lassen den Sarg hinab. Die Zeremonie dauert so lange, dass Papa und ich das Loch erst in der Finsternis zuschütten können. Jeder Handgriff sitzt! Ich bekomme kaum Luft, aber es bleibt mir keine andere Wahl, als immer weiterzumachen. Danach: Frankfurter und Bier.


Türschwellenschauer. Dieses Wort kam mir im Traum. Ich war begeistert davon, weil es so treffend für dieses Gefühl ist, das ich seit einiger Zeit mit mir herumschleppe. Ich bin schon lange draußen, aber schaue noch kurz rein ins Leben, ohne die Schwelle zurück noch einmal übertreten zu können.


Heute Diagnose. Seit drei Uhr liege ich wach. Ich kann nicht mehr einschlafen und wälze mich hin und her. Irgendwann gegen fünf ist es genug. Worte vibrieren im Kopf. Alles, was ich bis jetzt über A. geschrieben habe, ist falsch. Ich muss wieder von vorne beginnen.


A. ist der Grund, warum ich überhaupt erst zu schreiben begonnen habe. Sie ist meine Sprache, also muss ich sie mir ausschreiben, um irgendwann meine eigene zu finden. Bis dahin bin ich Gefangener der Sehnsucht zu ihr. Nein! Wahrscheinlich ist es ganz banal: Das Buch ist der allerletzte Anker, um A. nicht ganz zu verlieren.


Um 9 Uhr Richtung Lungenklinik. Zug. Straßenbahn bis zur letzten Station vor dem Tiergarten. Ich kann nichts lesen, keine Musik hören und blicke aus dem Fenster: Landschaften. Häusermeere. Nichts.


Befundbesprechung. Ich werde in einen sterilen, weißen Raum gesetzt und warte. Scheinbar hält sich niemand für längere Zeit hier auf. Es ist eine desinfizierte Durchlaufstation für schlechte Nachrichten. Ein junger Arzt tritt ein. Er begrüßt mich und schlägt meine Akte auf, als würde er das zum ersten Mal machen. Es ist nicht derselbe Doktor wie beim letzten Mal, denke ich, aber ich kann sie in ihren weißen Kitteln nicht unterscheiden und schaffe es auch nicht, ihm in die Augen zu sehen. "Also Sarkoidose an sich lässt sich ja nicht diagnostizieren", sagt der Doktor hektisch. "Wir gehen da eher im Ausschlussverfahren ran. Wenn es alles andere nicht ist, dann das!" Sein nachfolgender Behandlungsvorschlag klingt so, als wäre er direkt einer Bibel des österreichischen entnommen: Nichts tun und hoffen, dass alles besser wird. Die Spontanheilungsrate sei in dieser Phase sehr hoch. Sechs Monate warten und dann Verlaufskontrolle bei einem Lungenarzt meiner Wahl. Mehr nicht! Ich bin erleichtert und verärgert zugleich. Wozu all das Tamtam, wenn die Krankheit von alleine verschwindet? Ich wurde in einem Umfeld groß, in dem es die Ärzte sind, die einen krank machen, und finde jetzt Bestätigung dafür. Hätte ich nichts unternommen, wäre ich auf dasselbe Ergebnis gekommen – ohne die Last des Wissens und die schlafraubenden Gedankenspiele. Bier in einer Bar. Schnaps.


Auf dem Weg nach Hause steigt A. in den Zug. Die untergehende Sonne lässt die Schatten zwischen ihren Augen und Lippen tanzen. Sie setzt sich mir gegenüber. Lächelt. Als A. sich nach vorne beugt und in mein Ohr flüstert, wache ich auf. Ich weiß jetzt, wie unsere Geschichte enden muss. (Mario Schlembach, Vorabdruck, ALBUM, 26.3.2022)