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Smyrna, zwischen Istanbul und dem Dodekanes, nach dem Feuer von 1922.

Foto: Picturedesk.com / Mary Evans / Grenville Collins P

Eine Feuerwalze, an die dreißig Meter hoch lodernd. Durch Gasse nach Gasse, Boulevard nach Boulevard raste sie, gespeist von Benzin, sich nährend von Holzhäusern. Selbst steinerne Stadtpalais, Botschafterresidenzen und Luxushotels kollabierten, während die Flammen weiter und weiter sprangen, einen ganzen Tag lang.

Erst tausende, dann zehntausende, sehr rasch weit mehr als 100.000 Menschen drängten sich auf der Mole des Hafens von Smyrna. Es war der 12. September 1922. Es war der Tag, an dem diese alte, wohlhabende und kosmopolitische Stadt der Levante unterging.

Tatenloses Zuschauen

Kriegsschiffe der Franzosen, Briten und Amerikaner dümpelten vor Smyrna – und schauten tatenlos zu. Rafften sich nach einiger Zeit dann auf, einen Teil der Hilfe suchenden Menschen an Bord zu nehmen. Was weiß man über Smyrna, auf Türkisch Izmir? Lemberg. Was wusste man hierzulande bis jüngst über Lemberg, auf Ukrainisch Lwiw? Der Deutsche Lutz C. Kleveman, der seit 20 Jahren aus Krisenregionen zwischen Osteuropa und Afghanistan berichtet, veröffentlichte 2017 ein Buch über Lemberg, die, so der hellsichtige Untertitel, "vergessene Mitte Europas". Diesen Band liest man heute mit an+deren, mit ganz anderen Augen und erschüttert.

Ebenso erschütternd und folgenreich war der Untergang Smyrnas an der türkischen Küste vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Von dieser scheinbaren Fußnote des Nachlebens der katastrophalen Erschütterungen der Kriegsmoderne erzählt Kleveman – und von mehr. Denn diese Stadt war bereits 1822 fast dem Erdboden gleichgemacht worden, nachdem griechische Insurgenten sich von Athen via Chios dorthin aufgemacht hatten, um ein freies Griechenland zu erkämpfen. Das Osmanische Reich war noch stark genug, um den Aufstand brutal niederzuschlagen.

Neben- und Gegeneinander

Die dritte Ebene, die Kleveman einzieht, ist die Gegenwart mit der sich zwischen der Küste Kleinasiens und den Inseln Chios, Samos, Lesbos abspielenden Flüchtlingskrise. So ergibt sich eine Trias, eine Abfolge im Abstand von jeweils einhundert Jahren – und ein eindringliches Nachhallbild von Neben- und Gegeneinander diverser Ethnien, Nationalismus und Hass, Grausamkeit und Kurzsichtigkeit, Tod und Heroismus.

Lebendig zeichnet Kleveman die Rolle und Bedeutung der im östlichen Mittelmeer wichtigen, hochbedeutenden Hafen- und Umschlagstadt nach – die vor allem um und nach 1900 einen starken ökonomischen Aufschwung erlebte; die eine Vielzahl von Ethnien beherbergte, die miteinander kooperierten, nebeneinander lebten – Religion und Heiratskonventionen trennten sie immer noch; die stupend viele Zeitungen in verblüffend vielen Sprachen hatte, Grandhotels, Residenzen diverser Generalkonsuln und das größte und profitabelste Kartell für den Export teurer Orientteppiche. Smyrna auf halber Strecke zwischen Istanbul und dem Dodekanes war eine Perle.

Die durch den hellenischen Traum eines neuen Imperiums, das die osmanische Küste einschließen sollte, nach 1919 zerstört wurde. Die Armee unter Mustafa Kemal drängte die Griechen ins Meer zurück. Smyrna musste als blutigster Nachklapp für die "Megali Idea" büßen. Kemals Konzept für die junge türkische Republik bestand in Nationalisierung mit eiserner Faust, ethnischer Homogenisierung und in monolingualem Monokulturalismus.

Darauf ging auch der Bevölkerungsaustausch von Griechenland und der Türkei 1923 zurück, bei dem Hunderttausende zwischen Salonica, heute Thessaloniki, und der Westküste der Türkei zwangsweise umgesiedelt wurden, ihre angestammte Heimat verloren.

Ethnische Säuberungen

Es war die Generalprobe für "ethnische Säuberungen" bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, bis zum jugoslawischen Bürgerkrieg. Unter der Hand, und das führt Kleveman deutlich vor Augen, mündete diese Trennung entlang von Konfession, die individuell zum Teil nachrangig bis unbedeutend war, später in eine neue Multikulturalität. So weist die griechische Musik Thessalonikis starke türkische Einflüsse auf.

Hie und da huscht Kleveman durch offene Türen der Erkenntnis. In der Bibliografie vermisst man den einen oder anderen leicht zugänglichen Titel. Störender ist, dass Kleveman sich immer wieder in persona einbringt. Das ist bei US-amerikanischen Autoren gern der Fall, die Historie oder Zeithistorie mit emotionaler Konstitution, Herkunft oder familiär weitergegebenen oder verlorengegangenen Traditionen vermengen. Es ist allerdings so ahistorisch wie indezent – und manchmal von abschweifender Nebensächlichkeit.

Muss man wirklich erfahren, dass Kleveman sich einen roten Scooter mietet oder er unfreiwillig Single ist? Dass eine solche Genreauflösung in Richtung Reisereportage und impressionistische Schilderungen für ein gewisses Flair sorgt und für Auflockerung, ist unbestritten – ebenso, dass sein Buch zugänglich geschrieben und als Katastrophenminiatur mit welthistorischen Folgen erhellend ist. (Alexander Kluy, ALBUM, 26.3.2022)