Ich seh´ Dich nicht, ich liebe Dich: KERSTIN und MARKUS haben sich über Parship gefunden. Dass sie blind ist, hat sie ihm erst nach ein paar Chats gesagt.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Kerstin wischt nach rechts. Eine roboterhafte Frauenstimme spricht aus ihrem iPhone: "Sie haben eine neue Nachricht." Ein Foto und ein paar Klicks später klingelt ihr Handy – eine schockierte Freundin. "Ich habe ihr versehentlich ein Dick-Pic weitergeleitet. Aber woher hätte ich das wissen sollen?", kichert Kerstin verlegen. Kerstin ist seit ihrem 14. Lebensjahr aufgrund einer genetischen Erkrankung blind. Sie grinst: "Ich wollte von ihr wissen, wie der Typ aussieht. Aber diesen Anblick hätte ich der Armen gerne erspart."

In Österreich gibt es rund 300.000 Menschen, die sehbehindert oder blind sind. Auch sie suchen nach Flirts und Liebe im Web. Das mag für manche überraschend wirken, schließlich sind Tinder, Lovoo und ähnliche Dating-Apps stark auf optische Kriterien ausgelegt: Ist die Person auf dem Foto attraktiv – Wisch nach rechts, it’s a match. Sieht die Person nicht so gut aus: Wisch nach links und bye. Aber wie beurteilt man hier sein Gegenüber, wenn man es nicht sehen kann?

Unternehumgsfreudig

Kerstin ist 35 Jahre alt und strahlt wie die Sonne. Die Bibliothekarin in der Braille-Bibliothek im Bundes-Blindeninstitut sucht im Web ihr Liebesglück: "Ich habe die Parship-App, sehr barrierefrei ist sie zwar nicht, es geht primär um das Wischen von Fotos, aber immerhin gibt es Profilbeschreibungen, die ich mir vorlesen lassen kann."

Das übernimmt, wie bei allen anderen Inhalten auf Kerstins Smartphone, "Anna" – die Voice-over-Bedienungshilfe von Apple, die Displayinhalte vorliest. "Mich spricht an, wenn da ‚unternehmungsfreudig‘ oder ‚humorvoll‘ steht. Uninteressant ist für mich, wer fast nichts im Profil ausgefüllt hat." Optische Vorlieben hat Kerstin nicht: "Ob braunhaarig oder blond, das ist egal. Wenn er größer ist als ich, sage ich aber nicht Nein", lacht sie. Manchmal befragt sie sehende Freundinnen und Freunde zu Fotos: "Ich will zwar nicht oberflächlich sein, irgendwie möchte ich aber schon wissen, wie jemand aussieht."

Schmerzhafte Antworten

Auf ihrem Profil zeigt Kerstin Urlaubsfotos – und die Beschreibung "Ich bin ein offener Mensch, treffe mich gerne mit Freunden und liebe das Leben". Dass sie blind ist, steht da nicht. Denn schlimmer als ungefragt erhaltene Penisfotos sei die Erkenntnis gewesen, dass ihre Erfolgsquote gleich null ist, wenn sie ihre Blindheit von Anfang an in ihrem Profil offenlegt.

"So schreibt einen niemand an. Aber zu spät darf man es den Leuten auch nicht sagen, die Zurückweisung tut nach längerem Schreiben mehr weh." Einmal hätte sie das Onlinedating fast aufgegeben: "Als jemand zu mir gesagt hat, er habe keine Lust, mich zu pflegen. Das war das Schlimmste. Pflegen! Was glauben die Leute?"

Doch dann kam Markus. Ein Like, ein Match und endlich ein vernünftiger Chat. "Er hat sich für mich interessiert, viel gefragt. Und er war groß!", sagt sie. "Ich habe gleich gespürt, dass es mit ihm anders war. Doch dann kam der Gedanke: Kerstin, was machst, wenn er weg ist, sobald du sagst, dass du blind bist?" Aber Markus war nicht weg. "Ich habe mir einen Ruck gegeben und es ihm nach ein paar Tagen Chatten gesagt. Er fand toll, dass ich so ehrlich damit umgehe. Für ihn war es Neuland. Er hatte noch nie eine blinde Freundin. Wir haben uns ein paar Tage später getroffen, um zu schauen, ob es passt."

Vier Stunden waren sie im Kurpark Oberlaa spazieren, am Ende gab es einen Kuss, "es war ein Feuerwerk". Seit einem Jahr sind sie ein Paar, man habe viel voneinander gelernt. "Er sagt heute noch oft, ich hätte ihm das Leben gezeigt. Schon lustig, dass die Blinde dem Sehenden das Leben zeigt."

Mitten im Leben

Nicht nur auf Parship, auch auf Tinder, Lovoo, Bumble oder Facebook Dating tummeln sich weltweit Millionen Singles. Chris hat Erfahrungen mit fast allen diesen Apps gemacht. In Lederjacke und Jeans betritt er das Café Westend, er trägt Parfum und hat sich schick gemacht. Chris ist 36 und aufgrund einer genetischen Erkrankung blind. "Völlig erblindet bin ich erst mit 26, das war hart. Aber du hast ja nur zwei Möglichkeiten: Kopf in den Sand stecken oder weitermachen."

Ersteres war keine Option für ihn, Chris steht mitten im Leben: ein guter Job als "Bürohengst", wie er sagt, ein großer, fast nur aus Sehenden bestehender Freundeskreis und eine Leidenschaft für Fußball, die er stolz in Form eines Balls, aufgefädelt auf eine Halskette, zeigt. Nur mit der Liebe hat es noch nicht geklappt.

Eigentlich lernt er Frauen lieber beim Ausgehen kennen, in der Bettelalm, Golden Harp & Co. Frauen anzusprechen falle ihm nicht schwer, pandemiebedingt hat er seine Datingagenden aber ins Internet verlagert: "Facebook Dating, Lovoo, Parship, Tinder – richtig überzeugt hat mich bisher nichts." Zu oberflächlich seien die Leute, zu unzugänglich die Technik. "Lovoo ist für uns Nichtsehende schwer verwendbar. Bei Tinder bin ich schon an der Registrierung gescheitert. Barrierefreiheit ist da nur eine Theorie."

Chris hat eine gewisse Vorstellung von seiner Partnerin: "Alles, nur keine Blondinen! Zwar ist die Optik egal, aber mit ihnen habe ich keine guten Erfahrungen gemacht. Außerdem muss mich ihr Vorname ansprechen – und gewisse Hobbys turnen mich ab: bitte nicht Wandern!" Die Beurteilung, ob jemand attraktiv ist, überlässt auch Chris seinem Umfeld. So hat auch er unlängst eine Freundin unwissend mit einem Nacktfoto einer weiblichen Verehrerin beglückt. "Sei froh, dass du blind bist!", habe seine Freundin gesagt.

Wer ist dein Traumprinz?

"Kuschelbär mit Handicap sucht Prinzessin", steht in Chris’ Profil. Um welches Handicap es sich handelt, nicht. "Dass ich blind bin, sage ich erst spät. 95 Prozent verabschieden sich dann." Chris zuckt mit den Schultern.

"Online ist das Angebot einfach groß, ich nehme das niemandem übel. Manchmal ertappe ich mich dabei, meiner Behinderung die Schuld zu geben. Aber das kann ich nun mal nicht ändern. Ich habe ein tolles Leben, das lasse ich mir davon nicht vermiesen." Er blickt zu Boden und fragt die Redakteurin schelmisch: "Wie soll dein Traumprinz eigentlich sein?"

Ein paar U-Bahn-Stationen entfernt, am Meidlinger Markt, sitzt Rebekka. Sie weiß, dass sie gut bei Männern ankommt. "Einen Korb bekomme ich selten, ich hatte viele Onlinedates. Wie viele, sage ich nicht, aber es waren mehr als zehn", grinst die 18-Jährige. Selbstbewusst sitzt die Schülerin vor ihrem Cappuccino. Smartphone am Tisch, Blindenhund Molly spitzt unter der Sitzbank die Ohren. Rebekkas iPhone sieht aus wie das einer typischen Jugendlichen: Instagram, Facebook, Whatsapp, Tiktok und Snapchat. Auch sie verwendet alle Apps mittels Voice-over, Zoom-Funktion und Siri.

Rebekka kommt mit einer genetischen Netzhauterkrankung zur Welt, die zunächst zu einer Sehbehinderung führt, also Sehschärfe und Gesichtsfeld bis zu einem gewissen Prozentsatz einschränkt. Ab ihrem 14. Lebensjahr schwindet ihr Sehvermögen. Heute liegt es bei rund zwei Prozent. Damit gilt sie laut Einstufung des Berufsverbands der Augenärzte und Augenärztinnen als blind.

REBEKKA und SEBASTIAN flirteten über Lovoo; auf ihre Sehbehinderung reagiert er beim ersten Real-Life-Date dann extrem entspannt: "Ja, okay."
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Onlinedating als Chance

Rebekka hat einen großen Freundeskreis und geht oft aus. Onlinedating sei aber eine Chance: "So kann mich jemand kennenlernen, ohne gleich von meiner Behinderung zu wissen." Dass sie blind ist, steht nicht in ihrem Lovoo-Profil, auch beim Chatten erwähnt sie es nicht. "Meistens sage ich es erst beim ersten Date, nämlich dann, wenn mir mein Gegenüber gefällt." Aber fällt nicht sofort auf, dass sie blind ist? Rebekka schüttelt den Kopf, dafür habe sie Vorkehrungen getroffen: "Ich lade meine Dates zum Spazieren ein und wähle eine Runde, die ich in- und auswendig kenne. Dass ich blind bin, merken die meisten nicht."

Und wenn sie es dann sagt? "Die meisten Leute reagieren eigentlich ganz entspannt. Manche waren verunsichert und haben gefragt, ob das bedeutet, dass ich in vielen Dingen Hilfe brauche." Ihre Blindheit sei beim Dating bisher kein Nachteil gewesen: "Ich verteile mehr Abfuhren, als ich bekomme." Etwa an Leute, die es mit der Rechtschreibung nicht so genau nehmen. "Wenn jemand keine ganzen Sätze bilden kann, ist er weg."

Um das Optische kümmert sich ihre Cousine: "Sie sortiert für mich aus. Ich stehe nicht auf Bad Boys, die Sixpack-Fotos vor dem Spiegel machen. Aber eigentlich ist das Äußerliche nicht so wichtig, wenn man blind ist. Mein Freund Sebastian ist zum Beispiel ein ziemlicher Lauch", lacht sie. Ihn lernte sie vor eineinhalb Jahren auf Lovoo kennen, ausgesucht haben ihn ihre Eltern: "Ich wollte mit meiner Mama so ein Mutter-Tochter-Ding machen und gemeinsam Profile swipen, mein Papa saß zufällig daneben und fand, Sebastian sehe aus wie ein Nerd. Meine Mama fand ihn süß."

Nicht die Technik ist die Hürde

Auch mit Sebastian spazierte Rebekka beim ersten Date ihre Stammrunde, ohne zu sagen, dass sie blind ist. Als sie ihn fragte, ob er noch zu ihr kommen wolle, habe er kurz abgewogen, ob sie eine Serienkillerin sei, lacht sie. Auf ihr Geständnis, dass sie blind sei, reagierte Sebastian dagegen extrem entspannt: "Er so: ja, okay." Das habe sie fast schockiert, meint Rebekka. "Warum hat er nichts gefragt? Ich hatte das Bedürfnis, meine Krankheit zu erklären. Aber er sah darin einfach kein Problem."

OLIVER ist von Geburt an sehbehindert. "Wer schlecht sieht, nimmt Flirts in Bars nicht wahr." Dating-Apps seien hilfreich.
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Oliver hatte nicht so viel Glück. "Das Match wurde aufgelöst", steht in riesigen herangezoomten Buchstaben am Display. "Heuer habe ich mich erst mit einem Mädchen getroffen. Sie hat sich beim Treffen nichts anmerken lassen, am nächsten Tag dann unser Match einfach aufgelöst und sich nie wieder gemeldet."

Oliver ist eine stattliche Erscheinung: groß, breite Schultern, fester Händedruck. Der 23-Jährige ist von Geburt an auf dem rechten Auge blind. Nach einem Arbeitsunfall 2018 schwindet sein Sehvermögen auch auf dem linken Auge. "Dass ich sehbehindert bin, ist nicht zu übersehen. Es steht daher in meinem Profil. Wenn jemand wirklich interessiert ist, schreckt sie das nicht ab." Einmal wurde er gefragt, ob er ansteckend sei. "Ja, komm her, dann schaust du danach auch so aus", habe er geantwortet. Oliver schüttelt amüsiert den Kopf.

"Ich bin nicht gut im Ansprechen von Frauen. Und wenn man schlecht sieht, nimmt man Flirts in einer Bar auch gar nicht so wahr." Oliver sucht daher virtuell nach einer Partnerin. Sein Favorit ist dabei die App Bumble: "Ich finde gut, dass man dort Spotify verlinken kann. Ich stehe auf die ganzen 90er-Rock-Sachen wie Linkin Park oder Nickelback. Mir ist wichtig, dass jemand einen ähnlichen Musikgeschmack hat. Auch Natürlichkeit ist mir bei einer Frau wichtig. Was mich abtörnt, sind Personen, die eine halbe Tonne Make-up brauchen, um sich schön zu fühlen." Er hätte gerne eine selbstbewusste Frau an seiner Seite; wenn er es sich aussuchen könnte, lieber eine sehende Person als eine blinde.

Wenig ergiebige Bildbeschreibung

Um jemanden nach seinen Vorstellungen zu finden, nutzt Oliver auch die Bildbeschreibungs-App Envision AI, eine Software, die Texte, Umgebungen, Objekte, Personen oder Produkte, die mit der Handykamera gescannt werden, vorliest und beschreibt. Nicht immer seien diese Beschreibungen sehr ergiebig. Je länger man Olivers Geschichte lauscht, desto mehr bekommt man jedoch den Eindruck, die Hürde stelle ohnehin nicht die Technik, sondern die Einstellung der Leute ihm gegenüber dar: "Leute sind eben oberflächlich und wissen nicht, wie sie mit mir umgehen sollen."

Ist die Gesellschaft 2022 noch nicht bereit für inklusives Dating? Spezielle Kontaktplattformen, die versprechen, ein Safe Space für Menschen mit Behinderung zu sein, sind etwa die deutschen Websites handicap-love.de und behinderte-dating.com.

Aber wird das überhaupt gebraucht, ja gewollt? Die Meinungen dazu gehen in der Community auseinander. "Dating-Apps für Blinde fördern erst wieder nur das Kastendenken, dass Behinderte nur mit Behinderten sein sollten", sagt Oliver. Stattdessen sollte man offener sein. "Menschen sollten aufhören, Blinde als zerbrechliche Wesen zu sehen. Das würde das Dating für mich erleichtern." (Viktoria Kirner, 29.3.2022)