Pier Paolo Pasolini wurde am 2. November 1975 ermordet, seine Leichte wurde am Strand von Ostia gefunden.

Foto/Grafik: Marie Jecel

Selten werden Autorinnen und Autoren von den Machthabern als ebenbürtig akzeptiert: so sehr, dass man ihren Einwänden Gehör schenkt und sie – schon aus Gründen der Sportlichkeit – zu widerlegen trachtet. Als ein solcher "Fürstenerzieher" wider Willen machte Pier Paolo Pasolini (1922–1975) von der Öffentlichkeit denkbar spektakulär Gebrauch. Von Jänner 1974 an schrieb der Römer aus dem Friaul eine Reihe von Grundsatzartikeln: ausgerechnet für die konservative Tageszeitung Il Corriere della Sera.

Bereits im ersten Beitrag schlug Pasolini den gleichsam resignativen Grundton an, der fortan durch seine Zeitungstexte dröhnte. Als Rufer in der Wüste blieb der Autor, selbst homosexueller Außenseiter, unüberhörbar. Indem er die "langen Haare" linker wie rechter Jugendlicher betrachtete, kam er auf den Konformismus zu sprechen. Letztlich habe sich der Unterschied zwischen Faschisten und Antifaschisten verwischt. Die neue Diktatur des Konsums sorge für die endgültige Gleichschaltung der Italiener.

Mit der bloß kosmetischen Minderung des Elends so vieler italienischer Armer trete ein Zeitalter die Zwangsherrschaft an: eine, die totalitär und "gewaltsam totalisierend" sei. Denn gleich, ob die Erniedrigten und Beleidigten bäuerlichen Ursprungs sind oder Subproletarier: In Pier Paolo Pasolinis gewiss verklärendem Blick gleichen beide stolzen Verwaltern des über sie verhängten Mangels. Ihnen eignet zugleich eine aufsässige Schönheit, die Würde des Rebellentums – als Faustpfand für eine bessere Zukunft.

Verblendung und Verschwinden

Fortan lässt Pasolini den Eifer nicht mehr sinken. Er verteidigt die (Vor-)Geschichte des Kapitalismus gegen dessen eigene Profiteure: Die Umwälzung, von der er mit wachsender Verzweiflung schreibt, sei nivellierend und geisttötend. Sie erzeugt eine Kultur des Gleichklangs, der Verblendung durch den Konsum; hingegen beklagt Pasolini das Verschwinden von Ungeschliffenheit und Analphabetismus.

Der Intellektuelle, der seinen "Körper in den Kampf wirft", konstatiert noch aus Anlass der Legalisierung der Abtreibung vor allem die dahinterstehenden Zwänge: Er, den die Boulevardpresse als Halbweltfigur abstempelt, geißelt die heteronormative Sexualmoral. Diese verleihe dem Koitus ein gewohnheitsrechtliches Ansehen und bringe die Erotik um ihre beste Dimension: "In einer Gesellschaft, in der alles verboten ist, kann man alles machen; in einer Gesellschaft, wo nur etwas erlaubt ist, kann man nur dieses Etwas machen."

Nichts, Leere, Vakuum

So prallt man beim Wiederlesen von Pasolinis gesammelten Artikeln ("Freibeuterschriften") auf einen grandios wütenden Reaktionär, der sie gleichzeitig alle links zu überholen scheint: die Kirche, die Kommunistische Partei, vor allem aber die machtversessene christdemokratische Partei. Ihr stellt er, in seinen letzten Texten, eine Art Totenschein aus: Er wirft ihr nicht etwa, wie sonst in den frühen 1970ern üblich, die Fortsetzung des Mussolini-Faschismus mit reformerischen Mitteln vor. Er konstatiert in den Gesichtern der Machthaber: der Andreottis, Fanfanis, Moros, eine Erstarrung zur Maske. Kein Häufchen Knochen oder Asche sei dahinter zu finden, nur das Nichts, die Leere: "Ein Machtvakuum an sich".

Ein paar Monate später war Pasolini tot: ermordet auf einer Brache in Ostia. Die gönnerhaften Antworten Giulio Andreottis auf Pasolinis Polemik waren damals bereits vergessen. Immerhin: Andreotti hatte auf den weltberühmten Außenseiter geantwortet. Erst 1993, mit der Verspätung von 18 Jahren, entschuldigte sich der siebenmalige Ministerpräsident Italiens posthum bei "Caro Pasolini". Dieser habe in wesentlichen Punkten seiner Zivilisationskritik recht behalten. (Ronald Pohl, 27.3.2022)