Dieses Bild hat kein Caspar David Friedrich geschaffen: Das Wasser steht der "Serenissima" kaum bis zum Keller.

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Nichts erweicht die verfrorene Seele nachhaltiger als ein Frühlingsabstecher nach Venedig. Die Gondeln liegen – aufgrund akuter Wasserknappheit – so tief wie nie. Selbst die Gondolieri blicken nicht mehr über den Rand der Kais. Das venezianische Magistrat bemüht eigens Kräne, um würdige Greisinnen mit Einkaufstaschen voller Artischocken an Land zu hieven. Keine von ihnen ließe sich als "Zwergin" beschreiben; keine trägt einen roten Mantel oder führt Hiebe mit dem Hackmesser. Glauben Sie dem Film Wenn die Gondeln Trauer tragen kein einziges Wort.

In Wirklichkeit geht alles seinen gewohnten Gang: Man verläuft sich in den Outbacks von Castello im Nervengeflecht der Gässchen; der Turm hinter der Seufzerbrücke steht von Jahr zu Jahr noch ein wenig schiefer. Schon rüsten die Wirte der "Serenissima" für den anstehenden Biennale-Trubel. Hunderte Kunst-Adabeis wollen schließlich die Eiswürfel in ihren Spritzpokalen klimpern hören.

Als kleinen Babyboomer versetzte mich Venedig noch in Angst und Schrecken. Kaum hatte ich die ersten Maskierten erblickt, erkrankte ich an Mumps. Nach einer einzigen Hotelnächtigung brachen meine Eltern, auch sie neu in der Lagune, die Zelte ab. Im Stillen verfluchten sie ihr eigen‘ Fleisch und Blut und ventilierten meine nachträgliche Freigabe zur Adoption. In der liberalen Kreisky-Ära schien dergleichen Kindesweglegung zwar nicht wünschenswert, jedoch möglich.

Adrett verschnürtes Päckchen

Mögen andere ihr Herz in Heidelberg verloren haben: Mit dicker Backe daheim angekommen, bemerkte ich den Verlust meines Kuschelbären. Die Tränen spritzten mir waagrecht aus den Augen. Die Frühlingstage kamen und gingen; in Wiens Innenhöfen hackten die Möwen den russischen Krähen die Augen aus.

Als der erste Schmerz abgeklungen war, erreichte unseren Haushalt ein adrett verschnürtes Päckchen aus Venezia. Darin befand sich, wohlbehalten und brummig, mein kleiner Bär. An die Retournierung des Gesellen knüpfte die Hotelleitung die Bitte, ihr Haus bald wieder zu beehren. Seitdem ist es um mich geschehen. Begegne ich in Venedig tatsächlich Zwergen in roten Mänteln, lade ich sie auf einen Aperol Spritz. (Ronald Pohl, 30.3.2022)