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Menschen kämpfen nun in der Ukraine für demokratiepolitische Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre, sagt Claudia Kraft. Es sei deshalb wichtig, dass sich möglichst viele an diesem Kampf beteiligen.

Foto: AP / Markus Schreiber

Im Krieg müssen Frauen und Männer alten Rollen folgen: Männer kämpfen, Frauen fliehen. Dennoch wird Geschlechterpolitik beiseitegeschoben, obwohl es auch im aktuellen Kriegen zentral um die Verteidigung demokratiepolitischer Errungenschaften wie Gleichstellung geht, sagt Claudia Kraft.

STANDARD: In Extremsituationen treten Genderfragen in den Hintergrund. Gleichzeitig hängt es jetzt im Krieg stark vom Geschlecht ab, wie das Leben für Männer und Frauen weitergeht. Ist das paradox oder nur normal?

Kraft: Es gibt eine starke Rückkehr zu militärstrategischen Fragen und Geopolitik. So etwas wie Ungleichheit wird dann erst mal hintangestellt, und Fragen von Krieg und Frieden, Sieg und Niederlage bestimmen die Debatten. Das zeigt sich auch in der verbreiteten Einstellung, dass die Frage nach Geschlechterverhältnissen eine ist, die wir uns in friedlichen und wohlhabenden Gesellschaften leisten können und die als Luxus gilt.

STANDARD: Im Zusammenhang mit Putin ist jetzt öfter von "toxischer Männlichkeit" zu lesen. Was bringt diese genderspezifische Analyse?

Kraft: Derzeit begegnet uns eine polarisierte Geschlechterordnung. Die allermeisten ukrainischen Männer unter 60 werden für das Militär mobilisiert, viele Frauen begeben sich mit Kindern und ihren alten Eltern auf die Flucht. Es scheint eine völlige Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse zu passieren. Ich würde die Analyse der Geschlechterverhältnisse in eine etwas längere Perspektive rücken: Die Zunahme an Gleichheit durch Demokratisierungsprozesse wird durch einen Krieg nicht einfach zerstört. Putins "toxische Männlichkeit" könnte man als Ausweis eines russischen Imperialismus betrachten, der allem destruktiv begegnete, was in den vergangenen 15 Jahren an demokratischen Strukturen in der Ukraine und anderen Teilen des östlichen Europas aufgebaut wurde.

STANDARD: Wie stand es um die Gleichstellung von Frauen in der Ukraine vor dem Krieg?

Kraft: Die Ukraine ist wie andere Länder im östlichen Europa eine postsowjetische Gesellschaft: In der Sowjetunion war Emanzipation durch Erwerbsarbeit zentraler Bestandteil staatlichen Handelns. Das hat vielen Frauen mehr Bildung und ökonomische Selbstständigkeit verschafft, es hat aber an der symbolischen Geschlechterordnung relativ wenig verändert. Die Doppelbelastung von Frauen blieb ebenso Thema wie die fehlende Repräsentation von Frauen in politischen Entscheidungsgremien. Vor dem Hintergrund des paternalistischen Staates war Emanzipation nach 1990 sehr negativ konnotiert. Doch mit den Härten der Transformationen in den 1990ern und dem Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaats haben sich für Frauen Problemfelder eröffnet, die es nötig gemacht haben, laut für ihre Rechte einzutreten. Gerade die jüngere Generation ukrainischer Frauen ist sehr emanzipiert.

Claudia Kraft ist Professorin für Kultur- Wissen- und Geschlechtergeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Mittel-Ost-Europa.
Foto: Barbara Mair

STANDARD: Ukrainerinnen könnten nun in den Ländern Westeuropas vielen rassistischen Stereotypien über Osteuropäerinnen begegnen. Wie stufen Sie diese Gefahr ein?

Kraft: Es gibt dieses Bild der schönen, unterwürfigen osteuropäischen Frau, das eine lange Tradition hat. Ich glaube, viele sehen in diesen Wochen, wie falsch dieses Bild ist. Viele geflüchtete Frauen haben eine gute Ausbildung und wurden aus ihren guten Jobs herausgerissen. Im Westen werden osteuropäische Frauen auch vor allem als preiswerte Arbeitskräfte gesehen. Der Blick auf Osteuropa ist stark geprägt durch diese Brille, dass es dort ein anscheinend unerschöpfliches und immer wichtiger werdendes Arbeitskräftereservoir gibt, etwa wenn wir an Pflegekräfte denken. Es ist wichtig, dass durch die Begegnung mit den geflüchteten Ukrainerinnen dieses Bild jetzt ausdifferenziert wird.

STANDARD: Syrische Flüchtlinge stießen auf mehr Ablehnung als jene aus der Ukraine. Hängt das mit dem Geschlechterverhältnis zusammen?

Kraft: 2015 gab es in Teilen der Gesellschaft Misstrauen dahingehend, dass vor allem junge Männer mit angeblich zweifelhaften Absichten nach Europa kommen würden. Das gibt es jetzt angesichts dessen, dass vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen flüchten, nicht. Die Zusammensetzung der Geflüchteten spielt also schon eine Rolle für die Wahrnehmung, aber auch die geografische Nähe. Polen ist hier ein wichtiges Beispiel, da es bis zuletzt Flüchtlinge, etwa aus Afghanistan und dem Irak, auch Frauen und Kinder, nicht ins Land gelassen, sondern zurück in Richtung Belarus getrieben hat. 2015 wurde stark mit Bedrohungsszenarien gespielt, und es schlug sich eine Furcht vor dem "unbekannten Flüchtling" nieder. Jetzt hingegen ist in Polen mit inzwischen über zwei Millionen ukrainischen Geflüchteten die Hilfsbereitschaft unglaublich groß. Auch die sprachliche Nähe spielt eine große Rolle, es sind Menschen, die aus dem Nachbarland kommen und mit denen enge historische Verbindungen bestehen, wenn auch nicht nur konfliktfreie.

STANDARD: Steckt hinter der Ablehnung bestimmter Flüchtige nicht auch Rassismus?

Kraft: Ich würde da differenzieren und nicht die gesamte polnische Gesellschaft aufgrund der ablehnenden Haltung, die die polnische Regierung seit 2015 eingenommen hat, als rassistisch bezeichnen. Aber es macht nachdenklich, wenn man die gegenwärtige Hilfsbereitschaft sieht und dann an die anscheinende Kaltherzigkeit gegenüber den Flüchtlingen von damals denkt, als Polen sich nicht an der Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten im Rahmen der EU beteiligen wollte.

STANDARD: Wir sehen seit der russischen Invasion in der Ukraine auch viele kämpfende Ukrainerinnen. Ist auch das ein Fortschritt?

Kraft: In dieser Ausnahmesituation ist es völlig nachvollziehbar, dass sich auch Frauen am militärischen Kampf beteiligen. Ich würde das aber nicht automatisch als Ausweis von Gleichberechtigung sehen, sondern auch hier wieder eine etwas längerfristige Perspektive einnehmen: Der Grad der Gleichberechtigung hat immer viel damit zu tun, wie pluralistisch eine Gesellschaft verfasst ist. In der Ukraine kämpfen die Menschen nun für eine Demokratie, die sie in den letzten zwei Jahrzehnten errungen haben. Es ist wichtig, dass sich möglichst viele an diesem Kampf für die Demokratie beteiligen und dass deren institutionelle Grundlagen es dann allen Menschen ermöglicht, die gesellschaftlichen Rollen einzunehmen, die sie wollen.

STANDARD: Während bewaffneter Konflikte erklären uns diese vor allem Männer. Warum?

Kraft: Ja, trotz der Zunahme weiblicher politischer Akteurinnen sind es in der Ausnahmesituation des Krieges doch wieder Männer, die uns die Welt erklären. Aber auch wenn Frauen nicht die Positionen haben, solche Debatten zu dominieren, halte ich den Beitrag von Frauen dennoch für wichtig, weil dadurch ein differenzierteres Bild entsteht. Idealerweise ergibt sich aus der noch immer größeren Randständigkeit von Frauen die Chance, dass sie anders auf Konflikte schauen und etwa über feministische Außenpolitik und längerfristige Strategien nachdenken können. Über Strategien, die sich eben nicht nur in geopolitischen Kategorien bewegen, sondern auch in Kategorien von Nachhaltigkeit für die nachfolgenden Generationen. (Beate Hausbichler, 30.3.2022)