Igort, "Bericht aus Russland".
Illustration: Reprodukt-Verlag

Wanja, Angestellter der Feuerwerksfabrik von Dnipropetrowsk, ist betrunken und lacht ununterbrochen: "Putin wird bald in die Ukraine einfallen. Bum Bum Badabum. Hahaha, für ihn ist der Krieg ein Spiel, die Bomben ein Feuerwerkskörper."

Nicht 2022, es ist das Jahr 2008. Der italienische Zeichner Igort aka Igor Tuveri hat zusammen mit seiner ukrainischen Frau Galya Semeniuk rund zwei Jahre in der Ukraine und in Russland gelebt.

Im Anschluss daran erschienen die Berichte aus der Ukraine – Erinnerungen an die Zeit der UdSSR (2010) und Berichte aus Russland – Der vergessene Krieg im Kaukasus (2011). Seit Beginn des Krieges zeichnet Igort (Jg. 1958), im täglichen Telefonkontakt mit Menschen vor Ort, ein Tagebuch der Invasion.

Igort, "Berichte aus der Ukraine. Erinnerungen an die Zeit der UdSSR". Aus dem Italienischen von Giovanni Peduto. Berlin, Reprodukt 2011
Cover: Reprodukt Verlag

Eigenwillige Zugänge

Durch ihre spezifische Verquickung von Text und Bild und eine eigenständige Ästhetik ermöglichen Comics eigenwillige Zugänge zu aktuellen wie historischen Themen. Die folgenden Beispiele sind einzigartig in ihren Annäherungen an die Ukraine und Russland.

Eingebettet in persönliche Beobachtungen und historische Recherchen betreibt der Autor in den Ukraine-Berichten eine Archäologie der jüngeren Vergangenheit, oder, präziser, er stiftet dazu an. Auf der Straße spricht er Menschen an, die ihm dann von ihrem Leben erzählen.

Die "kleinen Geschichten" spiegeln die große größer, als man es zu ertragen vermag. Denn die Erinnerungen der Erzählerinnen wurzeln in der Geschichte des Holodomor, der Großen Hungersnot Anfang der 1930er-Jahre, die von Josef Stalin herbeigeführt wurde, wie Dokumente bezeugen. Das Land abgeriegelt, die Kornreserven zwangsbeschlagnahmt, und die als Kulaken bezeichneten Großgrundbesitzer wurden massenhaft deportiert.

Igort, "Bericht aus der Ukraine".
Illustration: Avant-Verlag

Tatsächlich handelte es sich aber vorwiegend um gewöhnliche Kleinbauern. Die Folgen für die ukrainische Bevölkerung waren verheerend, die Hungersnot erreichte ein Ausmaß, dass Menschen in der Verzweiflung Tierkadaver, sogar Leichen von Kindern verzehrten. Die Zahl der Todesopfer beläuft sich auf entsetzliche fünf bis sieben Millionen Menschen. Stalins Verschleierung der Verbrechen durch den Begriff "Dekulakisierung" erinnert an Wladimir Putins Sprachregelung von der "Denazifizierung" der Ukraine.

Igort, "Berichte aus Russland. Der vergessene Krieg im Kaukasus". Aus dem Italienischen von Federica Matteoni. Berlin, Reprodukt 2012
Cover: Reprodukt Verlag

Unverdauliches Knäuel

Während Igorts Zeitzeuginnen, damals Kinder, Schicht um Schicht eine lange tabuisierte Vergangenheit freilegen, findet der Zeichner in grafischen Überblendungen ästhetische Ausdrucksformen, die ihren Palimpsestcharakter verdeutlichen. Doch auch das Bild eines unverdaulichen Knäuels der Verdrängung zieht sich durch die Berichte, in Zeichnungen aus hauchdünnen Tuschefäden, an denen zugleich das Leben der Protagonistinnen hing.

Das trifft auch auf den Folgeband zu, in dem Igort die Journalistin Anna Politkowskaja und ihre Enthüllungen zum Tschetschenien-Krieg in den Blick rückt. Die unnachgiebige Anwältin der Opfer dieser von Putin gesteuerten Verbrechen musste ihren Einsatz 2006 mit dem Leben bezahlen, in einem Land, wie sie schrieb, das "wieder zur Sowjetunion geworden" ist.

Neben Igorts Diptychon des Schreckens, in dem Reisebericht, Oral History und Comicreportage ästhetisch ineinander verwoben sind, taucht Joann Sfars fünfbändige Comicreihe Klezmer in eine ganz andere Schicht der ukrainischen Vergangenheit ein.

Joann Sfars Comic "Klezmer"
Illustration: Avant-Verlag

Bevor er seine vorwiegend jüdischen Protagonisten und Protagonistinnen nach Odessa gelangen lässt, schickt er sie durch die russisch-ukrainischen Wälder der Zarenzeit. Ist es "eine Gaunerbande" oder "eine schöne Bande Freidenker"?

Allesamt sind sie irgendwo entkommen, geflüchtet, virtuose Musiker wie Lebenskünstler, stets dabei, sich ihren Unterhalt für den Tag zu verdienen. Doch in Odessa hält sie Sfar ein bisschen auf: In einer Villa, die ihnen eine alte Dame, Scylla, überlassen hat, nachdem sie selbst nach Israel aufgebrochen war, rufen sie ihre "autonome Künstlerrepublik" aus.

Die Geschichte seines Großvaters

Der französische Zeichner skizziert in Klezmer die Welt ukrainisch-russischer Ostjuden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die den Hintergrund zu den Geschichten seines Großvaters bildet. Es ist eine ausgelassene Hommage an Odessa, einst jüdische Hauptstadt des russischen Imperiums.

Joann Sfar, "Klezmer" (Bd. 1: "Die Eroberung des Ostens", Bd. 2: "Alles Gute zum Geburtstag", "Scylla!", Bd. 3: "Diebe, alles Diebe!", Bd. 4: "Trapezschwünge", Bd. 5: "Tollhaus Kischinew"). Aus dem Franz. von Jana Lottenburger. Berlin, Avant-Verlag, 2007, 2009, 2011, 2012, 2017
Cover: Avant-Verlag

In einem grandiosen Reigen aus Aquarell und jiddischen Liedern und Noten, die wild über die Seiten tanzen, beschwört Sfar, Jahrgang 1971, das Odessa Isaak Babels, des Moldawanka-Viertels und jener berühmten "Luftmenschen", Habenichtse, Bettler, Streuner, aus dessen Erzählungen. Seine Figuren sind losgelöst von ihrer religiösen Verwurzelung, doch verbunden im "Bewusstsein ihrer Zerbrechlichkeit".

Und so verbirgt sich hinter der überschäumenden Wildheit die Trauer über eine ausgelöschte Kultur, die im letzten Band durch alle Ritzen quillt. Darin geht es um den Pogrom von Kischinew (1903), heute Chişinău, einen der hässlichsten Pogrome überhaupt. Wie einst der Maler Marc Chagall versucht auch Sfar posthum, seine Figuren "in seinen Bildern in Sicherheit zu bringen".

"Surwilo" von Olga Lawrentjewa
Illustration: Avant-Verlag

Enger als Sfar, der die Geschichten seines Großvaters zugleich miterfindet, hält sich Olga Lawrentjewa an die Erzählung ihrer Großmutter. Surwilo – Eine russische Familiengeschichte ist der bislang einzige ins Deutsche übersetzte Comicroman aus Russland neben Anna Rakhmankos und Mikkel Sommers Verschleppungsgeschichte Vasja, dein Opa (Rotopol 2021).

Wie Igort den Menschen von Dnipropetrowsk, so hört Lawrentjewa, geboren 1986, ihrer Großmutter Walentina Surwilo zu und zeichnet ihre Lebensgeschichte auf.

Armut, Kälte und Hunger

Nach einer kurzen glücklichen Kindheit in Leningrad trat das ein, was sie seither als "das Unglück" bezeichnet. 1937, als Stalins Großer Terror wütete, ist Waljas Vater eines Abends nicht mehr nach Hause gekommen. Obwohl selbst ein überzeugter Kommunist, wurde er von der Geheimpolizei verhaftet, als Spion und Volksverräter diffamiert.

Die Mutter zweier Töchter wird aus der Stadt verbannt. Die verzweifelten Versuche, etwas über ihren Vater in Erfahrung zu bringen, bleiben erfolglos. Die Angst, die sich in der Zwölfjährigen festsetzt, wird sie zeitlebens nicht mehr verlassen.

Doch auf ihren größten Verlust folgen weitere Herausforderungen, das Leben in einer neuen Umgebung, die Armut, die Kälte, der Hunger. "Als wir nach dem Unglück flüchteten, mussten wir alles zurücklassen." Sobald sie mit einer Behörde in Kontakt tritt, ist sie als Tochter eines Volksfeindes sogleich Schikanen ausgesetzt. Auch wenn 20 Jahre später ihr Vater rehabilitiert wird, bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Olga Lawrentjewa, "Surwilo – Eine russische Familiengeschichte". Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Berlin, Avant-Verlag 2022
Cover: Avant-Verlag

Als der deutsche Überfall auf die Sowjetunion beginnt, ist Lawrentjewas Großmutter wieder in Leningrad. Die Blockade setzt der jungen Frau in aller Härte zu: Bomben, Kälte, Erschöpfung und die unvorstellbare Unerträglichkeit des Hungers. Es sind die eindrucksvollen Zeichnungen in schwarzer Tusche, durch die sich die Geschichte unauslöschlich ins Gedächtnis der Leserinnen einbrennt.

Mit kratzenden Federstrichen gräbt Lawrentjewa Schichten einer verschütteten Vergangenheit frei, die abertausende Menschen in der stalinistischen Sowjetzeit und während der Belagerung durch die deutsche Wehrmacht erleben mussten.

In dem Kontrast aus dunklen Tuschewolken und weißem Papier spiegelt sich der Antagonismus zwischen Machtapparat und marginalisierten Gruppen. Die Wucht, mit der die Geschichte auf einzelne Menschen trifft, drückt sich etwa in den filigranen Zügen eines Gesichts aus, das sich aus der Flut nachtschwarzer Tusche heraushebt. (Martin Reiterer, ALBUM, 2.4.2022)