Mildes Lächeln, klare Machtansprüche: Chinas Staatspräsident Xi Jinping (rechts) bei einem Treffen mit Wladimir Putin.

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"Russland scheint die alte Weltordnung in Trümmer zu legen. China könnte daraus anschließend etwas Neues bauen", meint der Philosoph Moritz Rudolph.

Maike Salazar Kämp

Mit dem Essay Der Weltgeist als Lachs (Matthes & Seitz) hat der junge Geschichtsphilosoph Moritz Rudolph vor zwei Jahren eine provokante Spekulation angestellt: Nicht der liberale Westen, wie es einst Francis Fukuyama prophezeite, sondern China werde als "vollkommene Synthesemacht" aus Kapitalismus und Sowjetkommunismus dereinst am Ende der Geschichte stehen. Zum Sterben ziehen die Lachse an ihren Geburtsort zurück. Der Weltgeist des Fortschritts, der aus Fernost über Europa immer weiter westwärts zog, mag sich zwar heute noch im kalifornischen Silicon Valley herumtreiben, könne aber schon morgen in Peking stehen. Recht haben will Rudolph damit nicht, wie er sagt. Ihn reize aber die Überlegung.

STANDARD: In Ihrem Essay vermuten Sie, dass die Corona-Krise der Bruch sein könnte, der China endgültig an die politische Weltspitze führt. Beschleunigt auch der Krieg in der Ukraine diese Entwicklung?

Rudolph: Vermutlich schon. Russland scheint die alte Weltordnung in Trümmer zu legen. Anschließend könnte Peking etwas Neues daraus bauen. Der Westen versucht, die liberale Ordnung zu verteidigen, untergräbt sie aber dadurch. Internet, Weltwährungssystem, Globalisierungsrouten – das alles könnte zerfallen. Der Krieg und die Sanktionen verschärfen die Zweiteilung der Welt, und China könnte zum Herrn des zweiten Teils werden.

STANDARD: Wir sprechen aktuell wieder in der Terminologie der alten Ost-West-Konfrontation. Ihrer Analyse nach wird Russland aber nicht mehr sein als ein Vasallenstaat Chinas, richtig?

Rudolph: Russland ist eine Landschaft mit Raketen, hat weniger Einwohner als Bangladesch, eine Wirtschaftskraft, die mit der spanischen vergleichbar ist, und kaum Soft Power. Es hat Öl und Gas, die Einnahmen fließen in die Kriegsmaschine. Menschen braucht man dafür kaum noch. Insofern ist Russland eine nachmoderne Konfiguration. Es kommunizieren zwei Naturen miteinander: die Landschaft und die Kriegstechnologie. Damit kann Putin in den Krieg ziehen, aber nicht in den Frieden.

STANDARD: Warum nicht?

Rudolph: Mit Hannah Arendt gesprochen: Der Kreml hat kaum Macht, aber Gewalt, er kann keine Gemeinschaft stiften, nur kaputtmachen. Er mag die Weltordnung zerstören, wird aber trotzdem verlieren und seinen Großmachtstatus nicht zurückerhalten. Dafür fehlen ihm die Mittel. Er muss sich an den Rockzipfel Chinas klammern. Heute ist er der Junge fürs Grobe, morgen Rohstofflieferant. Indem er sich gegen seine eingebildete Vasallenrolle stemmt, wird er erst recht zum Vasallen.

STANDARD: Hegel sah um 1800 den Fortschrittsgeist der Zukunft richtigerweise in den USA heraufdämmern, aber schon sein jüngerer Zeitgenosse Napoleon bemerkte "wenn China erwacht, wird die Welt erzittern". In Europa zittert man dennoch mehr vor Russland. Zu Recht?

Rudolph: Völlig zu Recht. Gerade weil der Kreml ohnmächtig ist, ist er gefährlich. Er kann nichts aufbauen, aber alles zerstören. Früher musste man eine große Macht sein, um mitmischen zu können. Heute gelangt man mit geringem Aufwand in den Besitz einer ultradestruktiven Technologie, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Die Nachmoderne scheint den Einsatz von Gewalt zu prämieren. Moskau macht davon ausgiebig Gebrauch. China ist hingegen mächtig und darum ordnungsfähig. Napoleons Zittern bedeutet nicht unbedingt Angst. Vielleicht ist damit nur gemeint, dass Peking die fragile Weltordnung durchschüttelt und neu zusammensetzt – Kapitalismus, Kommunismus, Konservatismus, Technikglaube und Naturergebenheit könnten sich zu einem Gebilde vermengen, das alle Erfindungen der Vergangenheit verbindet.

STANDARD: Sie schreiben, dass China zehnmal mehr Daten speichert und dreimal so viele Patente jährlich für künstliche Intelligenz (KI) anmeldet wie die USA. Warum ist das so entscheidend?

Rudolph: Als konventionelles Machtmittel ist KI vielleicht nicht sehr aufregend. Da ist sie bloß eine quantitative technologische Neuerung, die die Karten neu mischt, aber kein neues Spiel erfindet. Doch vielleicht erzeugt sie irgendwann eine neue Qualität, etwas, das die Subjektivität vom Menschen abzieht und der Materie zuführt. Das wäre die technologische Singularität, der Eintritt in die Nachgeschichte der Menschheit.

STANDARD: Fukuyamas "Ende der Geschichte" wurde spätestens von Putin eindrücklich widerlegt. Sie meinen, das Ende der Geschichte komme über uns, wenn China dereinst die Kontrolle an seine KI abgibt. Das klingt doch sehr nach "Terminator". Ist das nicht unrealistisch?

Rudolph: Sind solche radikalen Übergänge nicht normal? Der Klagenfurter Soziologe Arno Bammé sieht vier Singularitäten in der Geschichte der Menschheit, die alles verändern: die neolithische Revolution, das griechische Mirakel der Denkabstraktion und die wissenschaftliche Welteroberung der Europäer. Die technologische Singularität wäre der vierte Bruch, der Eintritt in die technologische Zivilisation, in der das Subjekt nicht mehr Mensch heißt, sondern Maschine.

STANDARD: Der Westen baute lange darauf, dass sich sein Modell der liberalen Demokratie mit der Zeit auch in Staaten wie Russland, China oder auch in der Arabischen Welt durchsetzen würde, wenn man nur lang genug Handel treibt. Ist das illusorisch?

Rudolph: Ist nicht der Handel die Vorbereitung des Konflikts? Er stärkt den Kontrahenten, zwingt ihm aber nicht das eigene Modell auf. Aber vermutlich wird China trotzdem etwas vom Westen übernehmen, hat es ja schon – den Marxismus, die Form des über sich hinausgreifenden Nationalstaats sowie Wissenschaft und Technik als Leitsterne.

STANDARD: Sie nennen China "die vollkommene Synthesemacht", weil sie Kapitalismus mit Sowjetkommunismus verbindet. Ist die westlich-liberale Demokratie dagegen chancenlos?

Rudolph: Der Klimawandel und das pandemische Zeitalter verlangen andere Verhaltensweisen und Disziplinartechniken als sie der Westen erprobt hat – nicht Naturbeherrschung, sondern Naturanpassung, nicht Überschuss, sondern Einschränkung. Dieses Zwangselement kennt der Westen nur in Ausnahmesituationen, um anschließend zur liberalen Regel zurückzukehren. Doch was, wenn die Ausnahme auf Dauer gestellt wird? Dann muss sich auch der Westen verwandeln und einen Teil seines besiegten Gegners, die Sowjetunion, in sich aufnehmen. Aber die Schöpfungen des Westens leben weiter – Wissenschaft und Technik werden weltweit übernommen. Nur sitzen deren Meister nicht mehr in Europa oder den USA, sondern anderswo. Und irgendwann verschwinden sie ganz, die Technik übernimmt und schickt die Menschheit in den Ruhestand. Diese dämmert dann wie Tiere in den Nischen der Apparatur vor sich hin und kann nichts mehr tun.

STANDARD: Was müsste passieren, dass es nicht so kommt?

Rudolph: Die Menschheit könnte sich vielleicht dazu entschließen, der Technik zu entsagen und wie unsere Vorfahren im Einklang mit den Naturgewalten zu leben. Sie könnte sich aber auch der Technik ergeben, um wie unsere Vorfahren im Einklang mit den technologischen Naturgewalten zu leben. Es läuft auf dasselbe hinaus, aber Letzteres ist komfortabler, weshalb es wohl passieren wird. (Stefan Weiss, 2.4.2022)