Im Gastblog beschreibt der Historiker Paulus Adelsgruber die ersten Tage in Chişinău nach Kriegsbeginn in der benachbarten Ukraine.

Am 22. Februar bin ich mit meinem karpatengeprüften Mondeo in Chişinău eingeritten, hab ihn vorher noch von den schlimmsten Dreckspuren befreit. In der Hauptstadt will man sich nobel geben. Ich hatte es nicht eilig, noch nie zuvor habe ich von Gänserndorf bis Chişinău so getrödelt und dreimal in Rumänien Nachtlager aufgeschlagen: in Satu Mare an der Grenze zu Ungarn, in der altösterreichischen Karpatensiedlung Oberwischau und im ostrumänischen Targu Frumos.

Man konnte noch scherzen und für die nächsten Tage planen. Ein Gespräch mit dem Direktor einer Lavendelplantage in Ungheni, einige Kilometer nach dem rumänisch-moldauischen Grenzübergang. Ein Stopp am pittoresken, hoch über der Ebene gelegenen Bahnübergang bei Petreşti: Der zweimal täglich zwischen Ungheni und Balţi verkehrende, altertümliche Zug kommt wie bestellt dahergefahren, das Rasseln der Warnanlagen kündigt ihn an. Eine grüne Lok und ein leerer roter Waggon. Daneben überblickt ein Holzjesus die Szenerie.

Bahnübergang Petresti.
Foto: Paulus Adelsgruber

Nicht weit davon steht an der Landstraße ein Gedenkstein mit Fotos von vier an dieser Stelle verunglückten jungen Männern. Eine heruntergekommene Kaserne mit Blick auf einen See in der Halbferne, eine alte Kolchose und ein moldauischer Bauernhof, vielleicht anderthalb Kilometer entfernt, eine Schafherde mit einem Hirten und massive bellende Hirtenhunde. Reagieren sie wirklich auf mich auf diese Distanz?

Bauernhof und Schafherde, Ungheni.
Foto: Paulus Adelsgruber
Nussbaumallee, typische Landschaft.
Foto: Paulus Adelsgruber

Es ist beschaulich, das Wort bukolisch muss jetzt fallen: Langgezogene erdfarbene Hügelzüge in Nord-Süd-Richtung, als Spuren der Gletscher, die einst Richtung Meer hinuntergeschoben haben. Die Verschläge der Bauernhirten, die auch ziemlich groß sein können, sind das Berauschendste an dieser Landschaft, sie strahlen Autonomie und Freiheit aus – aus der Distanz hinter der Autoscheibe. Noch am Abend treffe ich Mara aus Odessa, wir hatten uns im Sommer auf einem Ausflugsboot im Donaudelta kennengelernt. Auch ihre beiden Kinder waren damals dabei, der zwölfjährige Alexander und die fünfzehnjährige Nadja.

Wird schon gutgehen

Am 24. Februar ist es mit der Idylle vorbei. Gegen 4 Uhr früh lesen wir irritiert von Angriffen auf Odessa und andere Städte. Ach was, es sind doch nur Militärübungen der ukrainischen Armee, so ein Kommentar in irgendeinem Netzwerk. So rücksichtslos, das können die Ukrainer doch nicht machen, denk ich mir, nicht in der politisch angespannten Situation: Die Anerkennung der "Volksrepubliken" im Donbass hatte uns, naiv, noch kaum beunruhigt, na ja, es wurde halt der Status quo einzementiert, mehr nicht.

Die Mutter Mara in Chişinău beruhigt die aufgelöste Tochter Nadja in Odessa. Es sei nichts, sie soll schlafen gehen. Aber es ist doch was. Russische Luftschläge gegen ukrainische Militärbasen im Raum Odessa, 150 Kilometer von Chişinău entfernt. Unruhe und Chaos, niemand weiß, was los ist. Ich will sie nicht nach Odessa fahren lassen. Viel zu riskant, niemand kennt sich aus, auf der Landstraße könnte es gefährlich sein. Sie ist vorläufig einverstanden, ich habe noch ein paar Unterrichtsstunden online, schalte die Laptopkamera einige Male aus, weil ich mit den Emotionen kämpfe.

Gegen Mittag fahren wir zum Busbahnhof, der Taxler wittert für den Fall, dass es keine Busse Richtung Odessa gibt, eine lukrative Fahrt. Er hält Rücksprache mit der Zentrale und bekommt grünes Licht für die Strecke nach Odessa. Es gibt dann doch einen Minibus. Ein maulfauler, gestandener Mann von ungefähr 40 Jahren meint, er fährt mal zur Grenze und, wenn möglich, auch weiter, keine Ahnung, was los sei, garantieren könne er nichts. Nein, seine Telefonnummer können wir nicht haben, um bei ihm nachzufragen, wenn er unterwegs ist. Entweder mitfahren oder halt nicht. Mara ist unschlüssig, sie will nicht riskieren, an der Grenze zu stranden. Wir fragen die anderen Fahrgäste, wie sie die Lage einschätzen. Da stehen zwei Frauen, die sich unbeeindruckt schwarzhumorig geben, wird schon gutgehen, meinen sie. Machen Sie sich denn überhaupt keine Sorgen? Ja schon, aber was kann man schon machen, so ist es halt. Putin ist schon in Odessa, tönt es da aus dem Bus heraus – ein älterer Herr blödelt vor sich hin, das Handy am Ohr. Mara steigt schließlich ein. S Bogom, mit Gott! Wird schon gutgehen.

Über die moldauische Grenze

Ich nehme ein Taxi zurück ins Stadtzentrum, für den Bus fehlt mir die Geduld. Der Taxler ist auch in Sorge. Er stammt aus Transnistrien, östlich des Dnister, mit seinen Verwandten vermeidet er seit Jahren politische Themen. Am Handy zeigt er mir ein Facebook-Video: aufsteigende Raketen, 20 davon seien von Transnistrien Richtung Odessa geschossen worden. Fake News, wie ich Stunden später erfahre. Die Wahrheit, sie stirbt im Krieg als Erstes.

Es geht dann alles gut, Mara kommt recht zügig nach Odessa. Auf einer Brücke vor der Stadteinfahrt stehen aber jetzt ukrainische Soldaten, und die Gegenrichtung ist vom Flüchtlingsstrom geprägt, die Leute fahren auf allen Spuren Richtung Nordwesten, auch auf den Feldwegen daneben. Der große Exodus hat begonnen. Bis 5. März werden 200.000 Menschen an moldauischen Grenzübergängen registriert, Ende des Monats sind es beinahe 400.000, wobei drei Viertel weiterreisen. Im Verhältnis zur Bevölkerung von 2,6 Millionen (mit Transnistrien rund 3,1 Millionen) ist das ein Vielfaches der Zahlen Polens. Von der europäischen Öffentlichkeit wird das zunächst wenig beachtet.

Am Grenzübergang Palanca am Abend des 24. Februar.
Foto: Paulus Adelsgruber

"Wir sitzen das aus hier", meint Mara. Für die Eltern komme eine Flucht ins Ausland ohnehin nicht infrage, die wollen nicht weg. Wenn, dann gehen sie nach Ivankivci bei Sataniv, das ist beider Heimatdorf in der Oblast Chmelnyckyj. Genau hier, am Flüsschen Sbrutsch, verlief bis 1918 die Grenze zwischen dem habsburgischen Galizien und dem Zarenreich.

Oma Irynas Herzprobleme

Am Abend des 25. Februar sind in Odessa Schüsse zu hören: "Ich bin zu dir unterwegs, mit den Eltern. Sie wollen dann irgendwie zurück ins Dorf kommen." Sechs Personen machen sich auf den Weg nach Chişinău, Mara mit ihren beiden Kindern und den Eltern. Ihre Schwägerin sitzt am Steuer. Maras Bruder kommt nicht mit, Männer zwischen 18 und 60 dürfen nicht ausreisen. Die Reise wird zur Odyssee: Der Grenzübergang bei Kutschurgan, der über transnistrisches Gebiet führt und als besonders günstig empfohlen worden war, lässt nur Reisende mit Auslandspässen durch. Man muss zurück und sich in Palanca in die endlose Autoschlange einreihen. Die Nacht vergeht, der Vormittag vergeht, die Kolonne bewegt sich kaum weiter. Kurz nach Mittag beschließt man, die Kolonne zu überholen und sich vor dem Grenzbalken in eine freie Spur einzureihen. Maras Vater Mykola hatte sie erspäht, er war eine Stunde lang vorausgegangen (und eine Stunde zurück).

Doch die zweite Spur hatte sich mittlerweile in Luft aufgelöst, man stand jetzt abseits neben dem Grenzübergang. "Wir ziehen eine Show ab", beschließt die Schwägerin. "Oma, verdreh die Augen." Die herzkranke Oma Iryna, zudem Diabetikerin, simuliert einen Schwächeanfall, die moldauische Rettung ist sofort zur Stelle, es wird Blutdruck gemessen (recht hoch!) und Blutzucker. Die Tore ins Nachbarland öffnen sich. An der Grenze verteilen Privatleute Lebensmittel, ein junger Moldauer steckt ihnen 500 Lei zu, umgerechnet 25 Euro. Die Odessiten trauen ihren Augen nicht recht, man denkt zuerst, er möchte Geld bei ihnen wechseln. Man wird verköstigt und erreicht endlich die moldauische Hauptstadt. Ich staune nicht schlecht, als ich einen Koffer aus dem Kofferraum hebe und in die erschrockenen Augen einer Katze schaue: Überraschungsgast Anfisa hatte sich dort verkrochen und brauchte einen Tag, bis sie sich in meine Nähe wagt. (Paulus Adelsgruber, 6.4.2022)