Familienbesuch aus New York. Bist du froh, wird gefragt, dass euer Präsident in Zeiten wie diesen Joe Biden heißt und nicht Donald Trump? Ja, sagt der Gast, aber durchaus nicht alle seiner Landsleute seien dieser Meinung. Die Republikaner sind weit nach rechts gerückt, die Demokraten sind gespalten, und bei den kommenden Senatswahlen drohen den Letzteren empfindliche Stimmenverluste. Nicht ausgeschlossen, dass Trump eines Tages wieder zurückkommt.

Fernab von Thinktanks und Politikexperten scheint die Stimmungslage durchschnittlicher US-Amerikaner weniger von den großen Fragen der Politik beeinflusst zu sein als von der Übermacht der politischen Korrektheit im täglichen Leben, die vielen, auch relativ Liberalen, auf die Nerven geht.

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Die US-amerikanische Gesellschaft ist bemüht, Rassismus und Frauenunterdrückung zu beenden und bisher diskriminierten Minderheiten zu ihrem Recht zu verhelfen.
Foto: AP Photo/Jacquelyn Martin

Beispiele? Der Leiter einer renommierten Privatschule will seinen Job zurücklegen, weil er es satthat, bei jeder schlechten Note für einen Schüler oder eine Schülerin von empörten Eltern wegen vermeintlicher Diskriminierung ihres Kindes bedrängt zu werden. Beim Fußballspielen muss auch die unterlegene Mannschaft einen Pokal bekommen, weil es keine Sieger und Besiegten geben darf.

Fortschritt oder Rückschritt?

Ein Angestellter aus Brooklyn, lebenslanger Demokrat, will diesmal die Republikaner wählen, weil es jetzt nicht mehr möglich sei, mit den anderen aus der Firma – Weiße, Schwarze, Latinos, Juden – nach der Arbeit auf ein Bier zu gehen. Früher, sagt er, "waren wir alle Kollegen". Aber jetzt blieben die Ethnien unter sich. Ein Reiterdenkmal des einstigen Präsidenten Teddy Roosevelt wurde entfernt, weil auch ein Indianer mit Federschmuck darauf zu sehen war. Überall werden öffentliche Bibliotheken durchforstet, um Literatur mit möglichem kolonialistischem Inhalt zu eliminieren. Das Thema LGTBQ ist allgegenwärtig, und die Frage, ob es neben Herren- und Damentoiletten auch genug Klos für Transgenderpersonen gibt, beschäftigt Schul- und Universitätsverantwortliche.

Ein Erfolg der Linken, der Black-Lives-Matter- und der MeToo-Bewegung? Ja und nein. Die US-amerikanische Gesellschaft ist bemüht, Rassismus und Frauenunterdrückung zu beenden und bisher diskriminierten Minderheiten zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Vorkämpfer sind da vornehmlich die Aktivsten, die Minderheiten in den Minderheiten. Aber viele grundlegende Probleme, die vornehmlich die Schwachen im Lande betreffen, bleiben dabei auf der Strecke. So haben nach wie vor Millionen US-Amerikaner keine ordentliche Krankenversicherung. Das wichtigste Vorhaben der Biden-Präsidentschaft, eine große Sozial- und Infrastrukturreform, ist im Kongress gescheitert. Stattdessen fließen Riesensummen in Militär und Polizei. Bernie Sanders, bislang der Anführer der klassischen Linken in der demokratischen Partei, wird heute vor allem als alter weißer Mann wahrgenommen.

Fortschritt oder Rückschritt? Unser Gast seufzt. Rechts, sagt er, ist auch in den USA rechts geblieben. Aber was links ist, weiß man nicht mehr so genau. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 7.4.2022)