Ministerin Edtstadler: Wir waren naiv, was Putin betrifft.

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Der 24. Februar 2022, der Tag, an dem russische Truppen den Angriff gegen die Ukraine begonnen haben, markiere nicht nur ganz allgemein "eine Zeitenwende" in Europa, sagt Karoline Edtstadler. Diese "treffendste Formulierung", mit der der deutsche Kanzler Olaf Scholz nach Beginn des Angriffskrieges die Entwicklung beschrieben habe, drücke aus, was das mittel- und langfristig für die Europäische Union und damit auch für Österreich bedeute: "Es ist eine Zäsur. Nichts ist mehr, wie es vorher war", erklärt die österreichische Europaministerin im Gespräch mit dem STANDARD.

Das gelte auch für sie persönlich: "Es war für mich unvorstellbar, dass Wladimir Putin diesen Schritt macht, einen Krieg vom Zaun bricht." Dass der russische Präsident "in Europa ein Land überfällt, es zu brutalsten Menschenrechtsverletzungen kommt, zu Kriegsverbrechen, dass Vergewaltigung als Kriegswaffe eingesetzt wird" in einem Nachbarland – das habe sie "erschüttert".

"Raus aus dem Geschäft mit Russland"

"Wir", bekennt sie und bezieht ihre Ministerkollegen auf EU-Ebene ein, "hätten das für unmöglich gehalten." Nun gelte es, daraus die politischen Konsequenzen zu ziehen – für die EU im Inneren mit einer in Zukunft stark aufgewerteten gemeinsamen Sicherheitspolitik ebenso wie bei den Beziehungen zu Russland: "Es geht darum, dass wir die Einheit der Union bewahren", dass die EU-Länder "zusammenhalten" und dass alle "mittel- und langfristig aus den Abhängigkeiten von Russland herauskommen". Vor allem bei der Energieversorgung, auch bei Öl und Gas.

"Raus aus dem Geschäft mit Russland, das ist Konsens", sagt sie. Das gehe aber nicht von heute auf morgen: "Wir sind leider in einer sehr schlechten Situation, was die Abhängigkeit betrifft." Das gelte vor allem für Österreich, für Bulgarien, auf dem Westbalkan. Aber "wenn es um das Wesentliche geht, zeigt sich, was die Union leisten kann. Ich sehe nicht, dass die Einheit bröckelt."

Um Gesellschaft bemühen

Das Verhältnis zu Russland bzw. zur Regierung in Moskau ändere sich gerade komplett. "Wir können nicht mehr zur Normalität mit Putin zurückkehren", erklärt die Ministerin, "die Beziehungen zu ihm können sich nicht normalisieren, auf eine Ebene kommen, wie sie waren. Diese Naivität haben wir alle abgelegt. Dieser Zug ist abgefahren."

Das müsse man aber "strikt trennen von Beziehungen zu Russland, zum Land wie zur Gesellschaft", um die man sich bemühen müsse. Irgendwann ende jeder Konflikt mit Verhandlungen und Frieden. Es sei aber jedenfalls derzeit nicht damit zu rechnen, dass der Konflikt mit Moskau "in ein paar Wochen oder Monaten" beendet werden könne. Das zu glauben wäre "ein Trugschluss".

"Fehleinschätzungen" bei Russland-Politik

Man hoffe in Brüssel und in den Hauptstädten auf eine Waffenruhe; dass es gelinge, humanitäre Korridore für die Menschen in der Ukraine zu schaffen. Aber: "Ich rechne nicht damit, dass der Krieg mit all seinen Auswirkungen in wenigen Monaten vorbei sein wird", sagt die Ministerin.

Zur Kritik, dass Österreich sich in den vergangenen Jahren besonders Putin-freundlich, gar opportunistisch, verhalten habe, meint Edtstadler, sie habe heute kein Problem damit, "Fehleinschätzungen" bei der Russland-Politik offen zu bekennen; und sie stimmt in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Ausführungen des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier vor wenigen Tagen zu, der zugab, dass die deutsche Russland-Politik mit Putin ein Irrtum war.

Edtstadler: "Für Putin ist die Demokratie die größte Gefahr, die fürchtet er am allermeisten." Deshalb habe Russland die Ukraine, die sich dem Westen zuwandte, überfallen – "das haben wir unterschätzt, mit dem Wunsch als Vater des Gedankens, dass nicht sein kann, was nicht sein darf". Es sei nun müßig, sich allzu lange damit aufzuhalten, warum etwa auch die ukrainische Regierung das Risiko des Krieges bis zuletzt unterschätzt habe.

Abhängigkeit vom Gas

Jetzt gelte es vor allem für die EU-Staaten, gemeinsam die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Dazu gehöre auch die Diskussion über ein Öl- und Gasembargo: "Man muss aufeinander schauen. Ein Abdrehen ohne Rücksicht würde bedeuten, dass dann eben ein Nachbarland ein Problem hat." Die EU-Staaten müssten schärfste Sanktionen verhängen, "wir müssen sie auch durchhalten können".

Während sie in Wien die Lage analysiert, bereiteten sich ihr Regierungschef, Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), sowie die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Straßburg gerade auf eine Reise nach Kiew zu Präsident Wolodymyr Selenskyj vor. Dieser Besuch "bedeutet nicht nur symbolisch sehr viel. Er zeigt, dass wir den Präsidenten, sein Volk und die Souveränität des Landes voll unterstützen." (Thomas Mayer, 7.4.2022)