Bundeskanzler Olaf Scholz holte für die Abstimmung extra Außenministerin Annalena Baerbock vom Nato-Treffen zurück. Vergebens.

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In Deutschland ist die Einführung einer Corona-Impfpflicht gescheitert. 378 Abgeordnete stimmten am Donnerstag im Deutschen Bundestag gegen die Impfpflicht ab 60 Jahren, nur 296 Abgeordnete votierten dafür und neun enthielten sich. Damit erlitt die Ampelkoalition von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ihre erste bedeutende Niederlage. Auch Anträge anderer Parteien scheiterten. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zeigte sich enttäuscht, will aber weiter für die Impfpflicht kämpfen.

Lauterbach: "Wir machen weiter"

Scholz hatte für die Abstimmung eigens Außenministerin Annalena Baerbock vom NATO-Ministertreffen aus Brüssel zurückrufen lassen, um die Chancen für eine Annahme des Kompromissvorschlags zu erhöhen. Vor der Abstimmung hatten die Regierungsparteien wegen ihrer massiven internen Differenzen in der Frage die Fraktionsdisziplin aufgehoben. Während die rechtspopulistische AfD und die Linke klar gegen die Impfpflicht auftraten, beharrten die konservativen Unionsparteien auf einem eigenen Vorschlag.

Gesundheitsminister Lauterbach äußerte sich enttäuscht und betonte, dass der Kampf gegen Corona im Herbst nun "viel schwerer" werde. "Um unnötige Opfer im Herbst zu vermeiden, sollte der Versuch nicht aufgegeben werden, bis dahin trotzdem eine Impfpflicht zu erreichen", betonte der SPD-Politiker. "Man darf nie aufgeben, wenn es um das Leben anderer Menschen geht. So denke ich als Arzt, so denke ich als Politiker." Er hatte genauso wie Kanzler Scholz vehement für die Impfpflicht geworben.

Hitzige Debatte

Die Debatte wurde heftig, aber sachlich geführt. Die Befürworter einer Impfpflicht ab 60 Jahren warnten vor einer drohenden neuen Eskalation der Pandemie im Herbst, für die man gewappnet sein müsste. Die Gegner verwiesen dagegen auf Grundrechtseingriffe durch eine Impfpflicht und betonten die Unsicherheit, ob es überhaupt zu einer erneuten Zuspitzung der Corona-Lage kommen werde.

Antragskonkurrenz

Insgesamt waren vier Anträge eingebracht worden. Die größten Erfolgsaussichten hatte ein Kompromissvorschlag von Politikern der SPD, Grünen und FDP. Eine Mehrheit schien aber wegen des starken Widerstandes insbesondere innerhalb der FDP-Fraktion nur mit Unterstützung von Abgeordneten der konservativen Union in Reichweite. Entsprechenden Avancen schob aber Unions-Fraktionschef Friedrich Merz einen Riegel vor, indem er seine Abgeordneten auf ein Nein verpflichtete.

Lauterbach hatte den Abgeordneten vor der Abstimmung ins Gewissen geredet. Mit einer Impfpflicht ab 60 könnte vermieden werden, dass im Oktober wieder 200 bis 300 Menschen täglich an Covid sterben würden. "Wollen wir das akzeptieren?", fragte Lauterbach. Die Grünen-Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann warf der Union vor, aus parteitaktischen Gründen nicht mitstimmen zu wollen. Unions-Fraktionschef Merz verwies darauf, dass die Regierungskoalition in der Frage keine eigene Mehrheit habe.

Der CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge und der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Sepp Müller warben ihrerseits dafür, dass die Ampel den Union-Entwurf mittragen sollte. Dieser sei ein Kompromiss, weil er eine abgestufte Impfpflicht vorsehe, die aber nur bei einer ungünstigen Pandemie-Entwicklung in Kraft treten solle. Eine Impfpflicht jetzt sei "weder verhältnismäßig noch geeignet", sagte Müller. Allerdings stimmten dann nur 172 Abgeordnete für den Unions-Vorschlag, weniger als die größte Oppositionsfraktion Abgeordnete hat (195). 497 Abgeordnete stimmten dagegen.

Impfpflicht-Gegner

Die AfD-Co-Fraktionschefin Alice Weidel und der FDP-Abgeordnete Wolfgang Kubicki bekräftigten ihre Ablehnung einer Corona-Impfpflicht. Weidel sagt im Bundestag, eine Impfpflicht sei "verfassungsfeindlich" und eine "totalitäre Anmaßung". Kubicki verwies auf die im Schnitt schwächeren Krankheitsverläufe bei der Infektion mit der Virusvariante Omikron, weshalb keine Grundrechtseingriffe zulässig seien. Sowohl die AfD als auch eine Gruppe Parlamentariern um Kubicki haben Anträge gegen die Impfpflicht vorgelegt. Der FDP-Fraktionschef Christian Dürr teilte parallel zur Bundestags-Debatte auf Twitter mit, dass er keinem der Anträge zustimmen wolle. Kubickis Antrag gegen die Impfpflicht wurde nur von 85 Abgeordneten unterstützt, 590 lehnten ihn ab.

Parallel zur Debatte demonstrierten mehrere Hundert Impfgegner am Brandenburger Tor. Sie versammelten sich am Donnerstag in der Früh und protestierten gegen die Corona-Gesetze. Der Titel der Demonstration lautete: "Für freie Impfentscheidung und Selbstbestimmung über den eigenen Körper." Auf Plakaten stand: "Nein zum Impfzwang" und "Meine Gesundheit".

Arbeitgeberpräsident: "Kein guter Tag"

Enttäuscht über das Scheitern der Impfpflicht zeigten sich die deutschen Krankenhäuser sowie die Arbeitgeber. "Das ist kein guter Tag für die Pandemiebekämpfung. Impfen bleibt ein zentraler Baustein im Kampf gegen die Pandemie", erklärte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, sprach von einem "Scherbenhaufen, den alle Parteien zu verantworten haben".

Gesundheitsausgaben auf Rekordwert

Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Donnerstag 201.729 Ansteckungen binnen 24 Stunden. Das sind 73.172 Fälle weniger als vor einer Woche, als 274.901 positive Tests gemeldet wurden. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz sank zugleich weiter deutlich auf 1251,3 von 1394,0 am Vortag. Den dritten Tag in Folge meldete das RKI allerdings mehr als 300 Corona-Tote. 328 weitere Menschen starben im Zusammenhang mit dem Virus. Damit erhöhte sich die Zahl der gemeldeten Todesfälle auf 131.036. Die Zahl der Corona-Intensivpatienten in Krankenhäusern war am Mittwoch auf 2079 gesunken.

Parallel zur Debatte wurde auch bekannt, dass die Gesundheitsausgaben in Deutschland im zweiten Corona-Jahr 2021 auf einen Rekordwert gestiegen sind. Sie kletterten um 5,7 Prozent oder 25,1 Milliarden Euro auf 465,7 Milliarden Euro, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag in einer Schätzung mitteilte. Maßgeblichen Anteil hätten die Ausgaben für Tests und die Impfkampagne.

Detailliertere Zahlen legte die Behörde für 2020 vor, als die Kosten auf 440,6 Milliarden Euro zulegten oder auf 5298 Euro je Einwohnerin und Einwohner. "Damit stiegen die Gesundheitsausgaben pro Kopf erstmals seit Beginn der Berechnungen 1992 auf einen Wert über 5000 Euro." Die Gesamtsumme lag damit 2020 um 6,5 Prozent höher als 2019, dem Jahr vor der Virus-Pandemie. (APA, 7.4.2022)