Die mediale Darstellung von Flüchtenden und Schutzsuchenden bestimmt maßgeblich den Umgang der Gesellschaft mit den Betroffenen. Wichtig sei Migrationsforscher Rainer Bauböck zufolge, die Menschen nicht als anonyme Masse darzustellen.

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Angesichts des Ukraine-Kriegs sieht Rainer Bauböck, Obmann der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, eine Zeitenwende in der europäischen Flüchtlingspolitik gekommen. Im STANDARD-Gespräch erklärt er, was daraus folgt und wie die zivilgesellschaftliche Solidarität hochgehalten werden kann.

STANDARD: Welche Merkmale kennzeichnen die aktuelle Fluchtbewegung aus der Ukraine?

Bauböck: Die Gesamtbevölkerung ist in ziemlich einzigartiger Weise betroffen, es geht hier nicht um einen regional begrenzten Bürgerkrieg, sondern den Überfall eines Staates auf einen anderen. Der Angriff durch Bombardements betrifft potenziell die gesamte Ukraine, und die Zerstörung von Städten hat eine massive Vertreibung im Landesinneren und eine gleichzeitige Fluchtbewegung in die EU ausgelöst. Neu ist auch die Reaktion der EU.

STANDARD: Wie ist diese zu bewerten?

Bauböck: Es ist tatsächlich eine Zeitenwende, in der die europäischen Staaten sich umorientieren müssen. Dazu gehört, die EU-Außen- und Binnengrenzen für diese Vertriebenen offenzuhalten. Hinzu kommt, dass auch Länder als Erstaufnahmestaaten betroffen sind, die 2015 der EU und den anderen Mitgliedsstaaten die kalte Schulter gezeigt und gesagt haben: Die Situation geht uns nichts an, wir wollen diese Flüchtlinge nicht aufnehmen.

STANDARD: Trägt das Bild vom übermächtigen Aggressor zu diesem Sinneswandel bei?

Bauböck: Die Furcht, dass das Putin-Regime unberechenbar geworden ist und auch nicht vor EU- und Nato-Territorium haltmacht, trägt sicher gerade in Polen und den baltischen Staaten zu überwältigender Solidarität mit Geflüchteten bei. Dazu kommt sicherlich die Erwartung, dass es sich um temporäre Schutzsuchende handelt. Allerdings ist das Spekulation, niemand weiß, was Waffenstillstandsverhandlungen bringen, Putin ist auch in dieser Hinsicht unberechenbar.

Ukrainische Flüchtende kommen am Hauptbahnhof in Berlin an. Derzeit sind es hauptsächlich Frauen und Kinder, doch mit Fortdauer des Krieges werden auch zunehmend Männer das Land verlassen, sagt Rainer Bauböck.
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STANDARD: Ist eine Rückkehr in ehemalige Kriegsgebiete überhaupt immer möglich?

Bauböck: Wenn temporäre Flucht viele Jahre dauert, ist die Rückkehr nicht mehr besonders wahrscheinlich. Geflüchtete sitzen nicht zehn Jahre herum, sondern versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Danach wäre die Rückkehr wieder eine neue Entwurzelung. Aus Perspektive der Geflüchteten ist fast jede Fluchtbewegung der Absicht nach temporär. Aber Flucht bedeutet nicht nur, sich vor Verfolgung zu schützen. Wenn ich die Grundlage meines Lebens in meinem Heimatland verloren habe, muss ich ein Land finden, wo ich von Neuem beginnen kann.

STANDARD: Was bedeutet die EU-Richtlinie aus dem Jahr 2001 für die Integration?

Bauböck: Der große Unterschied ist die Freizügigkeit, die 2015 ein heißes Eisen war. Damals hat man einen falschen Ansatz verfolgt mit der Idee der Quotenregelung, nach der Geflüchtete in Staaten geschickt werden sollten, wo sie nicht hingehen wollen und die sie nicht aufnehmen wollten. Bei den Geflüchteten aus der Ukraine hat man verstanden, dass die beste Voraussetzung für Integration ist, wenn Vertriebenen dorthin gehen können, wo sie Verwandte haben, wo es größere Herkunftsgemeinschaften gibt und wo ihre Qualifikationen am Arbeitsmarkt nachgefragt werden.

STANDARD: Ist Österreich ein Durchzugsland?

Bauböck: Das ist die Erwartung, wenn die Grenzen in Europa und die Arbeitsmärkte offen bleiben. Man sieht das auch daran, dass ein großer Teil der in Österreich Angekommenen sich nicht hier registrieren lässt, sondern auf die Weiterreise wartet. Betrachtet man aber die historischen Dimensionen dieser Fluchtbewegung, wird eine für österreichische Verhältnisse große Zahl an Menschen bleiben. Und wenn der Krieg länger dauert, werden nach den Frauen und Kindern auch die ukrainischen Männer kommen, die heute ihr Land verteidigen. Das wird aber alle europäischen Staaten betreffen, weshalb alle Länder massiv in Integration investieren müssen.

STANDARD: Kann die Politik solche Situationen allein lösen, oder braucht es für die Bewältigung auch immer die Zivilgesellschaft?

Bauböck: Die Politik kann das nicht alleine, das hat man 2015 gesehen, und das zeigt sich jetzt wieder. Ohne die Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft, vor allem bei der kurzfristigen Beschaffung von Unterkünften, sind solche Situationen gar nicht zu bewältigen. Das muss man anerkennen, fördern und aufpassen, dass die politische Stimmung nicht kippt.

STANDARD: Was braucht es, um solidarisches Handeln anzustoßen?

Bauböck: Es gibt in Österreich wie in den meisten anderen europäischen Staaten einen Grundsockel an potenzieller Solidarität mit Geflüchteten. Ob diese aktiviert werden kann, hängt auch von den politischen Signalen ab. In Polen ist der Kontrast zwischen den Pushbacks von afghanischen und syrischen Flüchtlingen an der Grenze zu Belarus im Herbst 2021 und der heutigen Aufnahmebereitschaft für Vertriebene aus der Ukraine besonders augenfällig. Noch vor ein paar Monaten war das politische Signal: "Wir werden bedroht, die Grenzen müssen zugehen." Heute lautet die Botschaft: "Wir könnten die nächsten sein, die das Schicksal der Ukraine erleiden, daher müssen wir jetzt öffnen und solidarisch sein."

In der polnischen Stadt Przemyśl, im äußersten Südosten des Landes gelegen, kommen täglich tausende Menschen aus der Ukraine an. Eine gut dreistündige Zugfahrt trennt Przemyśl vom ukrainischen Lwiw, Lemberg.
Foto: Imago/ZUMA Wire

STANDARD: Welche Faktoren könnten die derzeitige Hilfsbereitschaft umschlagen lassen?

Bauböck: Wir leben in einer Welt, in der die sozialen Medien und die Boulevardmedien davon leben, Vorfälle zu skandalisieren. Derzeit gibt es schon eine Debatte um SUVs mit ukrainischen Kennzeichen, die in Wien Parkplätze belegen, weil sie vom Parkverbot ausgenommen sind. Solche Diskussionen lenken von den Bildern der Massen von Geflüchteten ab, die mit ihren geringsten Habseligkeiten kommen. Das ist ein Beispiel für eine Neiddebatte, die in Österreich leider sehr schnell angefeuert werden kann, auch wenn es um Sozialleistungen für Geflüchtete geht.

STANDARD: Welche Rolle spielen soziale Medien in dieser und für diese Fluchtbewegung?

Bauböck: Einerseits ermöglichen sie Geflüchteten, sich Informationen zu suchen, zu planen und nicht passive Opfer zu sein. Auch erlauben sie, die Lügen des Putin-Regimes sozusagen im Stundentakt bloßzustellen, indem man die Realität zeigt. Andererseits erzeugen soziale Medien Meinungsblasen und die Möglichkeit, Fake News zu verbreiten oder einzelne Vorfälle so zu generalisieren, dass ein völlig verzerrtes Bild der Geflüchteten entsteht. Ich erwarte leider, dass Letzteres passiert.

STANDARD: Wie könnte man dagegenhalten?

Bauböck: Indem man Geflüchtete mit ihren Gesichtern und ihren Geschichten zeigt, sie nicht als anonyme Masse darstellt, sondern als Menschen, die sich artikulieren können, die erzählen können, was sie erlebt haben und was sie jetzt benötigen. Was man sonst machen kann, ist, zivilgesellschaftlich die Solidarität zu organisieren und Netzwerke aufzubauen, die staatliche Hilfeleistungen unterstützen können. Das Wichtigste ist aber ein langer Atem. Die wirklichen Herausforderungen stehen erst vor uns. Es werden mehr Menschen kommen, und es werden mehr bleiben.

STANDARD: Der Ukraine-Krieg wird auch indirekt Fluchtbewegungen auslösen. Gibt es besonders gefährdete Regionen?

Bauböck: Die Staaten im Nahen Osten, allen voran Ägypten als bevölkerungsreichstes Land, sind massive Importeure von Getreide und stehen vor einem dramatischen Ausfall. Es fehlt das Getreide aus der Ukraine, aber auch aus dem noch größeren Russland – aufgrund der Sanktionen. Der Arabische Frühling begann zum Teil aufgrund von Revolten gegen steigende Brotpreise. Die Gefahr, dass die Ukraine-Krise indirekt soziale Unruhen in diesen Staaten auslösen könnte, ist sehr groß. In Ägypten herrscht ein Regime, das Widerstand brutal und blutig unterdrückt, um an der Macht zu bleiben. Auf die Unterdrückung sozialer Proteste folgen oft Auswanderungswellen. (Interview: Marlene Erhart, 11.4.2022)