In Polen gehen seit dem De-facto-Abtreibungsverbot immer wieder zahlreiche Menschen auf die Straße, um gegen das Gesetz zu demonstrieren.

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Es war kurz vor der Corona-Pandemie im Februar 2020, als eine Frau die Aktivistin Justyna Wydrzyńska um Hilfe bat. Sie war in der zwölften Woche schwanger, ungewollt, ihr Mann war gewalttätig, und sie vertraute nicht mehr darauf, dass die polnische Post rechtzeitig eine bestellte Abtreibungspille zustellen könnte. In einem Interview mit Al Jazeera erinnert sich Wydrzyńska an die Verzweiflung der Frau, die bereits nach Deutschland reisen wollte, um ihre Schwangerschaft abbrechen zu lassen – aber von ihrem Mann gestoppt wurde. "Ihre Geschichte hat mich berührt, weil sie meiner eigenen aus dem Jahr 2006 ähnlich war", sagt sie. Wydrzyńska war selbst in einer gewalttätigen Beziehung und beendete in der zwölften Woche ihre Schwangerschaft.

Doch in Polen sind Abtreibungen de facto verboten. Seit etwas mehr als einem Jahr sind auch Schwangerschaftsabbrüche bei schweren Fehlbildungen untersagt – was ohnehin nur eine der davor geltenden wenigen Ausnahmen abseits von Vergewaltigung, Inzest und Lebensgefahr für die Schwangere gewesen ist. Hilfeleistung bei Schwangerschaftsabbrüchen aus nicht legalen Gründen wird in Polen bestraft. Wydrzyńska teilte mit der Frau damals Tabletten. Der Ehemann soll die Polizei alarmiert und die Schwangere gehindert haben, die Pille zu schlucken – aber nun drohen der Aktivistin drei Jahre Haft. Heute, Freitag, steht sie vor Gericht.

Hilfsorganisationen und Aktivistinnen fürchten nun, dass die polnischen Behörden an ihr ein Exempel statuieren wollen.

Razzia nach 16 Monaten

Auch die Vertreterinnen der Gruppe Ciocia Wienia, der "Tante Wienie"– die Schwangeren unter anderem helfen, in Österreich sichere Abtreibungen durchführen zu lassen –, glauben, dass der Prozess eine "Machtdemonstration" wird, wie sie dem STANDARD schreiben. Normalerweise würden Personen, die Schwangeren bei Abtreibungen helfen, sechs Monate Bewährungsstrafe erhalten. Doch diesmal erwarten sie die Höchststrafe. "Drei Jahre Haft für Empathie und Fürsorge", schreiben die Aktivistinnen. Während mindestens drei Menschen aufgrund des strengen Abtreibungsgesetzes im vergangenen Jahr starben, würden jene, die sich dagegenstellen, von der Polizei überwacht und bestraft.

Doch Wydrzyńska wird nicht nur die Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch vorgeworfen, sondern auch der "Besitz von nicht autorisierten Medikamenten mit dem Ziel, diese auf den Markt zu bringen", wie es in einem Statement des polnischen Generalstaatsanwalts heißt. Denn 16 Monate nachdem Wydrzyńska der Schwangeren die Pille geschickt hatte, führte die Polizei eine Razzia bei ihr zu Hause durch. Dabei fand sie Tabletten für Schwangerschaftsabbrüche, die die Frau für sich selbst zur Seite gelegt hatte.

Wydrzyńska ist seit 15 Jahren Aktivistin für Abtreibungsrechte und hat in Polen den ersten Chatroom gegründet, in dem sich Betroffene über Möglichkeiten austauschen konnten, ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Der Frau, der Justyna Wydrzyńska mit der Pille helfen wollte, ist schlussendlich aufgrund des Stresses der Fötus abgegangen. (Bianca Blei, 8.4.2022)