Die Borderliner John Convertino (links) und Joey Burns von Calexico halten Wehmut und Lebensfreude in Balance.

Foto: City Slang

Der große Horizont, wer reklamiert den nicht gerne für sich? Während er in der Kunst oft im extraterrestrischen Nirgendwo jenseits des eigenen Tellerrands ein unberührtes Dasein fristet, darf die US-Band Calexico behaupten, den ihren zumindest als Sehnsuchtsort immer wieder anzuvisieren. Seit fast einem Vierteljahrhundert arbeitet die aus der Desert-Rock-Band Giant Sand hervorgegangene US-Formation an dieser Mission und hat dabei einige prächtige Arbeiten vorgelegt. Heute, Freitag, erscheint mit El Mirador ihr zehntes Studioalbum, es präsentiert die Linie zwischen Himmel und Erden wieder im Cinemascope, geflutet mit Herzblut. Demnächst auch live in Linz und Wien.

Ihre Mittel für das Unerreichbare sind immer ähnlich, aber nie dieselben. Für ihre Vision bemühten sie zuerst den Soundtrack eines Ennio Morricone: jene wüstenfernen Fantasien, die der Anzug-Italiener in den 1960ern und 1970ern für die Spaghetti-Western eines Sergio Leone komponiert und der Popkultur des 20. Jahrhunderts für immer eingeschrieben hat.

Morricone übersetzte Bilder, die den radikalen Wechsel epischer Totalen mit Detailaufnahmen aus nächster Nähe zeigten: Schweißtropfen an der Stirn, zitternde Daumen am Revolverabzug, wandernde Pupillen vor dem Knall im Duell.

Calexico

Derlei Bildern und Fantasien empfanden sich Calexico in ihrer von der Wüste umgebenen Heimatstadt Tucson in Arizona verbunden, diese Motive transferierten sie mit "mucho sentimiento" ins Heute. Ihre Relevanz erhöhte die nach einen Grenzort zwischen Mexiko und Amerika benannte Band mit der Überwindung dieser Borderline.

"Spanish is a lovely tongue"

Sie führte mexikanische Musik und ihre Deutung von Western-Soundtracks mit Rockmusik zusammen. Das ergab einen namenlosen Bastard, der sich je nach Gefühlslage in Richtung Rock, tränenreicher Mariachi-Pfeifen oder in die Hüften fahrender lateinamerikanischer Rhythmen verschieben konnte. Auf El Mirador pflegt Calexico die letztgenannte Vorliebe.

Calexico

"Spanish is a lovely tongue", sang einst der US-amerikanische Grenzgänger Doug Sahm und zerdrückte ein paar Kullertränen, weil seine Angebetete ihm ihre Vorzüge stets verweigerte. Für die Calexikaner ist es längst eine gleichberechtigte Zweitsprache geworden. El Mirador – das bedeutet unter anderem Aussichtspunkt – ist das Manifest eines Miteinanders.

Motor Wehmut

Entstanden in der Pandemie, versucht es, den Kopf hochzutragen, das Gute zu sehen. Sergio Mendoza, einer der Gruppe, hat 2020 in Tucson ein Studio in ein paar ausgemusterte Schiffscontainer gebaut. Dort fanden sich Bandgründer Joey Burns und John Convertino ein und entwarfen die Songs, andere Mitglieder arbeiteten von außen zu: Homeoffice selbst beim Plattenaufnehmen.

Das schien eine Sehnsucht zu befeuern, die den Songs deutlich anzuhören ist. Die Wehmut ist ohnehin ein Motor dieser Band, durchwirkt von Lebensfreude und den Momentaufnahmen, die daraus entstehen. Auf El Mirador entlädt sich diese Kunst in mitreißenden Liedern wie The El Burro Song, dem verführerischen Titelsong oder Cumbia del Polvo, das eine Agentenfilmgitarre veredelt. Das ergibt eines der besten von vielen guten Calexico-Alben. (Karl Fluch, 8.4.2022)