Das bizarre Nebeneinander von Krieg und "Normalität" ist in Europa historisch nichts Neues. Der 2012 verstorbene US-Literaturwissenschafter Paul Fussell hat in einer berühmten Studie über die mentalitätsgeschichtlichen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs (The Great War and Modern Memory) die "lächerliche Nähe" der Schützengräben in Flandern oder der Pikardie zum ungestörten britischen Alltagsleben beschrieben: Gerade einmal siebzig Meilen entfernt lag die "stinkende Welt aus klebriger, herabrieselnder Erde" von den Londoner Theatern mit ihrem üppigen Plüsch und dem Parfum, Alkohol und Zigarrenrauch im Café Royal.

Es kam vor, dass Offiziere im Schützengraben frühstückten und in ihrem Club in London dinierten. Und es gab mitten im Kriegsgebiet anormale Erscheinungen von "London". Im Winter 1914/1915 war der Anblick einer Unmenge von schweren Transportfahrzeugen – Brauereiautos, Möbelwagen, Londoner Busse, oftmals mit ihren Originalaufschriften – gleich hinter der Front etwas Alltägliches. Die postalische Zustellung von Briefen und Paketen funktionierte klaglos und dauerte im Durchschnitt vier, manchmal auch nur zwei Tage.

Glück zu haben heißt, sich auf jener Seite der Erde zu befinden, auf der man lediglich "Krieg" gegen das Coronavirus führen muss.
Foto: IMAGO/Olaf Schuelke

Daher wurden nicht nur haltbare Güter wie Konserven an die Front versandt, sondern auch verderbliche wie Backwerk, Butter, Eier und sogar frische Blumen zur Tischdekoration. Ein Korporal J. L. Morgan berichtet brieflich von der Front von einem kleinen Missgeschick: "Ich habe das Paket erhalten, aber die Torte war leider verdorben." Das war das Europa von damals. Fussell spricht von einer "ironischen Nachbarschaft von Gewalt und Desaster zu Sicherheit, Sinnhaftigkeit und Liebe".

Das ist auch das Europa von heute, nach einer langen Phase des Aufatmens aus dem gewohnten Metzeln und Morden auch nicht viel anders als das Europa von damals, nur dass die Front nach Osten gerückt und die Atombombe als konstante Hintergrundbedrohung präsent ist.

Geografie ist Schicksal, und Glück zu haben heißt, sich auf jener Seite zu befinden, auf der man lediglich "Krieg" gegen das Coronavirus führen muss. Und nichts Tragischeres erleidet, als sich über jene Idioten zu ärgern, die in den Öffis provokant über den Maskenrand hinausschnauben, weil ihnen eh schon alles wurscht ist, vor allem zivilisierte Umgangsformen. (Christoph Winder, 10.4.2022)