Ein Monat Krieg ist vergangen wie ein Tag. Ein langer dunkler Tag, an dem ich einiges über Dissoziationen gelernt habe. Wie sich die Psyche vom Körper ablöst und ihn, wie ein gelenkiges Kissen, sinnlos funktionieren lässt. Wie die Muttersprache ihren Halt an der Realität verliert und sich als ein System der leeren Zeichen entblößt, das das Vorsprachliche – den Schrecken – nicht erfassen kann. Wie sich die Wirklichkeit selbst dissoziieren kann. In etwa ein Leben in permanenter Angst vor Luftangriffen und alarmierenden Landkarten, vor Geschützfeuerkulissen, überflutet von Bildern sterbender Städte und ermordeter Zivilisten, von bruchstückhaften Tagebüchern aus Mariupol und stechenden Wunden der neu erlebten Geografie.

Auf der Straße wird mir aber etwas anderes vorgeführt. Ein älterer Herr hat einen Stuhl mitten in einen kleinen Park gestellt, sich in die Sonne gesetzt und tut so, als würde er lesen. In Wirklichkeit passt er auf, denn an einige Birken sind große Flaschen oder Gläser gestellt, in welchen Birkenwasser gesammelt wird. Eine Krähe kommt heran und versucht am Birkensaft (in der Ukraine wird es Saft genannt) zu naschen. Der Herr steht auf und verscheucht sie. Der Vogel kommt wenige Minuten später zurück und macht einen neuen Versuch.

Ein Stuhl in der Sonne, ein Mann, der Birkenwasser sammelt: "Einen Moment atme ich den Frieden ein."
Foto: Nelia Vakhovska

Das kann ich nicht fassen. Wie ist es möglich, wie schaffe ich es, mit der schwarzen Last am Herzen mich über diese Szene zu amüsieren? Einen Moment lang bin ich nur Sinneswahrnehmung, bade in jungen Sonnenstrahlen und atme den Frieden ein, so tief wie möglich, versuche ihn einzufangen und trocken zu trinken wie den Birkensaft von Riwne im Nordwesten der Ukraine, 350 Kilometer von Kiew entfernt.

Die schwarze Last

Bei Dissoziationen wird Routine empfohlen – mit den Handlungen fortzufahren, die man schon immer ausgeführt hat, damit der Körper und die Psyche erneut zueinanderfinden. Ich greife auf die Erfahrung aus der Jugendzeit zurück, als ich meine schwerkranke Mutter mit Arzneien versorgt habe, die nicht immer aufzutreiben waren. Wie selbstverständlich betrete ich eine Apotheke nach der anderen mit der Liste der Medikamente für das Spital in meiner Heimatstadt, die an einer Frontlinie liegt. Schilddrüsenhormone, Entzündungs- und Schmerzmittel, Glukosetester, Insulin, Asthmaspray, Knochensalben, Herzpillen. Die Vorräte sind bescheiden, aber wenn ich erkläre, für wen es ist, machen die meisten Apothekerinnen die Schubladen auf und reichen mir, was sie haben. Wir verständigen uns wortlos. In ihren Blicken erkenne ich die schwarze Last meiner Nächte.

Nur bei den dentalen Dingen verliere ich den Halt. Infolge der äußerst unglücklichen neoliberalen Reform des Gesundheitswesens in den vergangenen fünf Jahren mussten die Bewohner des Städtchens zu den Privatzahnärzten wechseln. Als der Krieg naherückte, haben sie sich evakuieren lassen. Die kleine Praxis am öffentlichen Spital musste wiederbelebt werden, und ihr fehlte es an allem. Ich habe Verschiedenes besorgt, von Zahnnadeln bis Entkeimungslampen, nur die Zahnzangen nicht. Auf der Liste steht "je drei bis fünf Stück für Ober- und Unterkiefer", die Auswahl ist riesig, und ich bitte das Spital um Präzisierung. Die Antwort ist verblüffend: "Nur für Vorderzähne." Die Verkäuferin und ich schauen uns in die Augen und denken an Explosionswellen. Sie hilft mir mit den Zangen und legt ungefragt das rar gewordene Zahnschmerzmittel dazu. Jede versucht die Tränen unbemerkt wegzuwischen.

Ein Karton Medikamente

Der große Karton mit den Medikamenten ist abgeschickt, ich beschließe spontan, in meine Städtchen zurückzukehren. Während der vierstündigen Fahrt kommen mir Erinnerungen – vermischt mit fürchterlichen Nachrichten – in den Sinn. Borodjanka, Nemischajewe, Worsel, Butscha, Hostomel – meine übliche Route vom Sommerhaus in die Großstadt liegt schwer um meinem Hals wie eine karminrote Perlenkette auf den Trachten ukrainischer Frauen.

Eine Gruppe von Kindern zwischen zehn und 16 ist aus der Gegend evakuiert worden. Alle wurden vergewaltigt. Die Psychologinnen wissen nicht, wie so vielen auf einmal zu helfen ist. Radtscha, ein kleines Dorf im Norden meines Verwaltungsbezirks, hat drei Wochen Okkupation erlebt. Seine Einwohner haben keinen Widerstand geleistet. Zuerst waren die Russen freundlich, nett zu den Kindern. Später im Zuge der "Selbstversorgung" fingen sie zu fleddern an, zwangen die alten Männer, für sie die Schützengräben auszuheben.

Das Telefonieren wurde verboten. Die Häuser derjenigen, die gegen das Verbot verstoßen haben, wurden von Panzern beschossen. Manchmal auch ohne Grund, um einzuschüchtern. Man konnte sich zu Fuß durch die Wälder retten, eine Frau und ihre schwangere Tochter haben das geschafft. Übernachtet haben sie auf einer Wiese bei Minustemperaturen.

Ein kluger weißer Mann erklärt meinem Lande in meisterhaftem Deutsch, dass man besser kapitulieren und am Leben bleiben sollte, um "unsagbares Leid" zu vermeiden. Andere kluge Männer rufen zu Pazifismus auf, dass keine Waffen in die Ukraine geliefert werden sollen, damit der Krieg zweier großen Imperialmächte zu einem Ende kommt. Alle diese Herren, von ihrer westlichen Besserwisserei besessen, scheinen in einer Hinsicht blind zu sein – für die Ukraine selbst sie sind jeglichem Humanismus fern. "Putin behandelt die Ukraine wie eine Frau", so die Femen-Aktivistin Inna Schewtschenko. Daraus hat der machtbesessene "Sammler der russischen Länder" nie ein Geheimnis gemacht. Doch im Unterschied zur Frau Austria, die es sich mit Hofknicks und dicken Geldbeuteln bei den Russen bequem gemacht hat, gehört die Ukraine für Putin "entukrainisiert" – beraubt, vergewaltigt, entführt, in "Filtrationslager" gesteckt, erschossen, mit Panzern überfahren und in eine lange DNR-Nacht versenkt (DNR steht für Volksrepublik Donezk, Anm.). Die Leichen, die dabei produziert werden, werden aber beide klugen Herren nicht stören, denn wen stört schon das Leid in Nordkorea?

Machtlos und ausgeliefert

Das Problem ist, dass nicht nur Putin, sondern alle Großmächte die Ukraine wie eine Frau behandeln – eine machtlose und ausgelieferte, die sich überraschenderweise doch wehren kann. An ihrem Körper misst man die Länge von Kanonenrohren und die Größe ihrer wirtschaftlichen Penisse. Sie nutzt man aus, um sich gegenseitig Grimassen zu schneiden und die Militärbudgets höherzuschrauben. Eine Frau, die blutet und schreien muss, um gehört zu werden.

Auf dem Lande bei meinem 70-jährigen Vater fühle ich mich verbrecherisch glücklich. Sein Städtchen ist den Gräueln der Okkupation entkommen. Er selbst ist von Einschüssen und Splittern verschont geblieben, ohne seinen eigenhändig angefertigten Schützengraben ausprobiert zu haben. Der zerbombte Ort hat acht Menschen und einige Dutzend Häuser und Gebäude verloren. Jetzt kehrt langsam das Leben zurück, neulich wurde via Werbung sogar lokal Sushi angeboten. Mein Vater schleppt Birkenwasser aus dem Wald und macht Witze über den Schnaps, den man lieber austrinken sollte, bevor er samt dem Haus unter Bomben verlorengeht. Wir prosten einander mit Birkensaft zu und trinken auf die Friedensverhandlungen. Nachts denke ich an Mariupol und an den Donbass und sehe wieder schwarz. (Nelia Vakhovska, 10.4.2022)