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Dirigent Herreweghe nimmt sich als Person sehr stark zurück.

Foto: FRANCOIS LENOIR/REUTERS

Wien – Direkt zum Herzen jedes und jeder Gläubigen zu sprechen – dieses Grundelement des Pietismus hat in den Passionen von Bach seine ideale Umsetzung gefunden. Aus dem großen Kollektiv zweier "Chöre", die als Einheit von Sängern und Instrumentalisten konzipiert sind, lösen sich individuelle Stimmen für vokale und instrumentale Solobeiträge. Wie Philippe Herreweghe mit seinem Collegium Vocale Gent im Konzerthaus Bachs Matthäuspassion anlegt, wirkt wie die perfekte Umsetzung dieser Konzeption.

Chor und Orchester bilden eine Einheit: zum einen durch eine großartige klangliche Verschmelzung von Stimmen und Instrumenten, die gleichzeitig enorme Differenzierung erlaubt; zum anderen, da fast alle Solostimmen auch als Teil des Gesamt-Collegiums fungieren. Das Individuum und nicht eine glänzende Spitzenleistung steht im Mittelpunkt, obwohl auch sehr prominente Namen dabei sind.

Akzent und Aufschrei

Dirigent Herreweghe nimmt sich als Person sehr stark zurück. Er agiert in erster Linie als Organisator und Taktgeber, setzt völlig stimmig und natürlich wirkende Tempi und metrische Akzente, die immer wieder dem Herzschlag gleichen – nicht nur in der pochenden Eingangsnummer. Individuellen Ausdruck überlässt er den Einzelnen wie auch den beiden großen Soloparts: Reinoud Van Mechelen gibt den Evangelisten klar und deutlich deklamierend und erlaubt sich an den entscheidenden Stellen auch einmal einen gellenden Aufschrei.

Bassbariton Florian Bösch ist ein grandioser, packender Christus: sonor, ausdrucksstark, mit messerscharfer Artikulation und Wortausdeutung, der nicht nur im Schmerz ein sehr menschliches Antlitz zeigt. Bei den unzähligen hervorragenden Instrumentalisten ragt das Solo der Gambistin Romina Lischka in der Tenorarie Geduld hervor: Wie sie den harten Punktierten ("falsche Zungen") sanfte Legatobögen entgegensetzt, ist eine musikalisch, rhetorisch und auch inhaltlich sehr erhellende Deutung. (daen, 9.4.2022)